Bildungsreise europäisches Grenzregime, Tag 3: Gespräche mit NGOs in Tunis

Bildungsreise europäisches Grenzregime, Tag 3: Gespräche mit NGOs in Tunis

Vom 29.9. bis 4.10.2015 bin ich auf Bildungsreise zum EU-Grenzregime in Tunis und Palermo. Bereits gestern und vorgestern gab es jeweils einen Bericht. Hier folgt nun ein Kurzbericht der Gespräche am Tag 3, der voll gepackt war mit Gesprächen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das war ein ganz klarer Gegenpol zum vorangegangenen Tag, wo wir nur mit „offiziellen“ Institutionen zu tun hatten. Die Einschätzungen gehen denn auch stark auseinander und wir haben heute von den NGOs sehr viele Informationen bekommen, die die „Offiziellen“ gestern uns nicht gegeben haben.

Der Tag begann mit einem Gespräch im Maison du Droit et des Migration (Haus der Rechte und der Migration) mit Anais ElBassil. Die Arbeit findet seit 2012 in Tunesien statt und es gibt eine starke Kooperation mit Migrantenselbstorganisationen. Das Haus soll als Ort dienen, wo man sich über Migration informieren und bilden kann und wo Informationen über Migration in der Region gesammelt werden. Seit Juni 2014 gibt es auch ein Tageszentrum für Flüchtlinge im Haus, wo Beratung und Assistenz im Alltag gegeben wird. In Tunesien sind die Rechte der Asylsuchenden sehr gering, die MitarbeiterInnen helfen ihnen in allen Lebensbereichen und auch juristisch. Außerdem werden alle Einzelfälle dokumentiert, wodurch auch ein Archiv der Menschenrechtsverletzungen in Tunesien aufgebaut wird.

Es wurde deutlich, dass eigentlich niemand weß, wie viele MigrantInnen aktuell in Tunesien leben. Probleme entstehen vor allem dadurch, dass es kein Asylrecht gibt. Dadurch ist es sehr schwer eine Arbeitserlaubnis bzw. einen legalen Aufenthaltsstatus zu bekommen. MigrantInnen sind im Alltag „unsichtbar“, bloß nicht auffallen, da die meisten einen irregulären Status haben. Ein großes Problem sind zudem Frauen und Mädchen, die nach Tunesien geholt werden und die in Familien arbeiten müssen, wenn diese später ausreisen wollen müssen sie pro Woche, die sie irregulär in Tunesien waren, 20 Dinar zahlen, das können sie nicht und müssen deshalb irregulär bleiben.

Der zweite Termin führte uns ins Haus des Tunesischen Forums für ökonomische und soziale Rechte (FTDES). Dort trafen wir uns zuerst mit Müttern auf der Flucht verschollener Migranten. Es war ein extrem emotionales Treffen. Die Frauen kämpfen seit März 2011 darum, von den tunesischen und italienischen Behörden etwas über das Schicksal ihrer Söhne zu erfahren. Sie sind überzeugt, dass die Söhne das italienische Festland sicher erreicht haben, dann aber in Italien verschwunden sind. Ich kann nicht wirklich einschätzen, was mit den Söhnen passiert ist. Ich kann aber mitfühlen, wie schrecklich es sein muss, wenn man nicht weiß, ob der Sohn noch lebt oder im Mittelmeer gestorben ist.

Es gibt eine Ausstellung mit Fotos der Mütter, die gerade in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis gezeigt wird.Teile davon habe ich fotografiert und will sie natürlich nicht vorenthalten.

Nach dem Gespräch mit den Müttern der verschollenen Migranten sprachen wir mit Abderrahmane Hedhili, dem Direktor des Tunesischen Forums für ökonomische und soziale Rechte (FTDES). Dieses Forum ist eine zivilgeselschaftliche Organisation, die sich mit Flucht auseinandersetzt. Sie geben bspw. den Müttern eine Stimme, beschäftigen sich aber auch mit den sozioökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen von Flucht. Herr Hedhili machte deutlich, dass die Fluchtbewegung aus Tunesien nach Deutschland vor allem kurz nach dem Tunesischen Frühling am größten war. Er sagte, er sei davon überrascht, da er eigentlich davon ausging, dass die Revolution Hoffnung gibt. Viele derjenigen, die auf der Straße waren, sind ausgereist, in der Zeit gab es kaum staatliche Ordnung, was den Ausreisewilligen zu Gute kam. Man spreche davon, dass der Tunesischer Frühling direkt zu Lampedusa führte. Die Hauptgründe für die Flucht junger Tunesier seien wirtschaftliche und soziale Gründe, 55% der migrierenden Jugendlichen kommen aus den ärmeren Vierteln um Tunis herum, die restlichen aus den armen Regionen Tunesiens, 25% sind Schüler.

Hinzu kommt: Niemandem war klar, wie groß der islamistische Einfluss auf die Jugend ist, 40% der Jugendlichen in den ärmeren Vierteln unterstützen ISIS. Er sagte wörtlich: Wer arm und jung ist geht entweder zu ISIS oder nach Europa. Deshalb brauche es dringend einen Ausbau des Sozialstaats. Mit Herrn Hedhili hatten wir eine sehr intensive Diskussion. Es half sehr, die vorher erlebten Dinge einzuordnen.