Ein Besuch am Schauplatz eines unfassbaren Verbrechens: Babyn Yar, Kiew

Ein Besuch am Schauplatz eines unfassbaren Verbrechens: Babyn Yar, Kiew

Leserinnen und Leser dieses Blogs wissen sicher bereits, dass ich immer wieder Gedenkorte besuche und mich mit der daraus erkennbaren Gedenkkultur beschäftige. Vor allem Gedenkorte, die an die unfassbaren Verbrechen der Nationalsozialisten erinnern, interessieren mich. Wie gedenkt man der Opfer? Wie kann man ihr Leid, ihre Verzweiflung, ihren Kampf, ihre Liebe Jahrzehnte danach sichtbar machen, dafür sorgen, dass nicht vergessen wird und damit einen Beitrag leisten, dass eine solche Entmenschlichung niemals wieder sein kann?

Eingang zum Park, wenn man von der nahegelegenen U-Bahnstation kommt.

Besonders gespannt war ich deshalb bei meiner Reise nach Kiew und Tschernobyl auf Babyn Yar (auch Babij Jar), übersetzt: die Weiberschlucht, teilweise auch die Altweiberschlucht. Hier fand das größte Massacker von SS und Wehrmacht an Juden während des Ostfeldzugs statt: Innerhalb von zwei Tagen – am 29. und 30. September 1941 – wurden hier fast 34.000 Jüdinnen und Juden ermordet und verscharrt. Den Kiewer Jüdinnen und Juden war vorgegaukelt worden, sie würden umgesiedelt, sie sollten warme Sachen, Papiere und Wertgegenstände mitnehmen und sich an der Schlucht einfinden. Zehntausende Männer, Frauen und Kinder folgten dieser Aufforderung. Sie alle mussten ihre Kleider ablegen und sich nackt in die Schlucht begeben, sich auf die schon dort liegenden Leichen legen und wurden dann erschossen. Zuvor hatten Generalfeldmarschall von Reichenau der Wehrmacht und SS-Standartenführer Blobel der SS gemeinsam diese „Aktion“ als „Vergeltung“ für Minenexplosionen, die durch die Rote Armee bei ihrem Rückzug in der Innenstadt gelegt worden waren, beschlossen. Beteiligt waren neben SS- und Wehrmachtsangehörigen auch Angehörige von Polizeiregimentern und Einheimische.

In den folgenden Monaten fanden weitere Massenerschießungen von Jüdinnen und Juden, Roma, sowjetischen Kriegsgefangenen, Partinsanen und politischen Gegnerinnen und Gegnern der Nazis statt. Niemand weiß, wie viele Menschen hier ermordet wurden, Schätzungen sprechen von bis zu 100.000. Später wurden auf Geheiß der Nazis – um das Verbrechen zu vertuschen – die Leichen von Zwangsarbeitern wieder ausgegraben und verbrannt.

Obwohl hier ein solch unfassbares Verbrechen stattfand, kennen nicht einmal alle Ukrainer den Namen Babyn Yar. Während Auschwitz weltweit als Synonym für den industriellen Massenmord steht, sind die Masseexekutionen von Wehrmacht und SS während des Krieges im Osten deutlich weniger im Blickfeld der Erinnerungsarbeit.

Am Rand der Schlucht.

Was in Babyn Yar geschah darf nicht in Vergessenheit geraten! Zumal nicht nur die Nationalsozialisten versuchten, den Ort vergessen zu machen. Schon in den 1940er Jahren bemühte sich die sowjetische Führung  auch aufgrund des Antisemitismus in Russland -, das Massacker umzudeuten in ein Verbrechen an der sowjetischen Bevölkerung. Dass es sich gezielt gegen Jüdinnen und Juden gerichtet hatte, wurde verschwiegen, Berichte darüber wurden zensiert. Später gab es Pläne, den Ort mit einem Sportstadion zu überbauen und es wurde 1960 beim Bau eines Staudamms Schlamm in die Schlucht gepumpt und auch Industrieabfälle wurden hineingeworfen. Nachdem ein Damm, der über das Gelände führte, brach und Teile der Innenstadt von Kiew überflutet wurden, wurden die Pläne zu den Akten gelegt. In den 1960er Jahren wurde der jüdische Friedhof, der den Opfern als Sammelpunkt gedient hatte, eingeebnet und mit einem Fernsehturm bebaut. Ab 1966 fanden jedoch geduldete Gedenkmärsche statt, 1976 wurde ein erstes Denkmal errichtet, das jedoch nicht erwähnte, dass Jüdinnen und Juden die Opfer waren. Erst nachdem Ende des Kalten Kriegs, 1991, wurde ein Denkmal für die jüdischen Opfer in Form einer Menorah errichtet.

Dass Babyn Yar nicht in Vergessenheit geriet und von der sowjetischen Führung nicht verschwiegen werden konnte, ist vor allem dem Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko zu verdanken, der zum 20. Jahrestag des Massackers 1961 das Gedicht Babij Jar veröffentlichte, das weltweit bekannt wurde. In diesem prangert er das nicht vorhandene Gedenken an:

„Kein Denkmal steht am Babij Jar, kein Stein.
Ein steiler Abhang, eine tiefe Grube.
Ich habe Angst. Ich fühle mich so alt,
So tausendjährig wie das Volk der Juden.“

Das ganze Gedicht ist in vier deutschen Übersetzungen 1963 in der Zeit erschienen. 

Und auch die juristische Aufarbeitung war gering: Zwar wurde bei den Nürnberger Prozessen der SS-Einsatzgruppenleiter Paul Blobel unter anderem wegen der Morde in Babyn Yar zum Tode verurteilt und wurden später acht weitere Mitglieder der Einsatzgruppe mit langen Haftstrafen belegt, jedoch wurde keiner der beteiligten Offiziere der Wehrmach jemals juristisch belangt.

Nun waren wir also hier. Ca. 7 km vom Stadtzentrum, mit der U-Bahn gut zu erreichen, ist dieses Gebiet mit einer Länge von ca. 2,5 km und bis zu 30 m Tiefe, das ursprünglich außerhalb des Stadtgebiets von Kiew gelegen war, heute von Wohngebieten umgeben. Wüsste man nicht, worum es sich bei diesem Ort handelt, würde man erst einmal denken, man wäre in einem großzügig gestalteten Park. Erst bei genauerem Hinschauen und dem Studium einer der Informationstafeln erfährt man ein wenig mehr über das Gelände. An vielen Stellen des Parks finden sich Denkmale und Gedenktafeln, ca. 30 sollen es sein. Zwar gibt es an einem Eingang in den Park Ausstellungstafeln mit Informationen zum Geschehenen, doch beschlich uns das Gefühl, dass man sich nicht auf ein gemeinsames Gedenken einigen konnte, und so den verschiedenen Opfergruppen verschiedene Gedenkorte dienen.

Wir haben nicht alle diese Stätten besucht, vielmehr haben wir versucht, den Ort auf uns wirken zu lassen. Ich weiß nicht, ob es von denjenigen, die diesen Park gestaltet haben, bewusst geschehen ist, aber uns ist aufgefallen, dass auf dem gesamten Gelände keine Blumen zu sehen waren. Weder in den landschaftsgärtnerisch gestalteten noch in den eher „wilden“ Bereichen fanden wir während unseres ca. eineinhalbstündigen Spaziergangs auch nur eine Blume. Als würde aufgrund der Schrecken und Gräuel, die an diesem Ort geschehen sind, die Natur keine Farben, nichts Fröhliches mehr hervor bringen. Vielleicht war dies auch der Jahreszeit (beginnender Frühling) geschuldet, für mich hat dies aber das Bedrückende des Ortes betont.

Ich bin nicht sicher, wie ein Ort gestaltet sein muss, damit er dieser unfassbaren Gräuel, die dort geschehen sind, ein würdiges, angemessenes Gedenken bietet. Erinnerungskultur muss nicht immer traurig und dunkel sein. Und vielleicht ist es gut, wenn ein solcher Ort von den Lebenden wieder in Besitz genommen wird und wenn er rege zum Spazierengehen genutzt wird. Und doch beschlich mich ein unangenehmes Gefühl angesichts der durch den Park Eilenden, die augenscheinlich keine Notiz nahmen von den Erinnerungsorten im Park. Spätestens der in den ukrainischen Farben gekleidete Jogger, der mehrmals die Allee, deren eine Seite Grabsteine säumen bis zum Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden hetzte, dieses umrundete und wieder zurücklief, stieß mir unangenehm auf. Auch die Familie, die laut lärmend ein Picknick abhielt, direkt neben dem 1976 eingeweihten, großen Denkmal in einem kleinen Parkstück gegenüber des Geländes, hat mich abgestoßen. Ob man Gedenkkultur als angemessen empfindet, ist sicher subjektiv. Mir war das Leben an diesem Ort einen Tick „zu normal“, zu alltäglich, zu vergessen.

Dennoch hat mich Babyn Yar emotional „erschlagen“. Sich eines solchen Verbrechens bewusst zu werden, während man mehr als 75 Jahre danach diesen Ort besucht, empfand ich als sehr traurig, belastend, erdrückend und gleichzeitig auch bestärkend, dass solche Gräuel nie wieder geschehen dürfen. Und obwohl sich nichts Authentisches mehr auf dem Gelände findet, ist doch die Möglichkeit, an den verschiedenen Gedenkorten im Park inne zu halten und sich hineinzufühlen in den Ort, für mich sehr wichtig gewesen. Es ist ein Ort, den man anders wieder verlässt, als man hineingegangen ist. Es bleibt eine Träne dort, die diesem grauenvollen Ort ein Stück von mir selbst hinzufügt.

Insofern habe ich, bei aller oben geäußerten Kritik, nach dem Besuch in Babyn Yar das Gefühl gehabt, dass es gut war, hier gewesen zu sein. Und auch jetzt beim Schreiben merke ich, dass Babyn Yar emotional Spuren hinterlassen hat. Und genau das soll ein Gedenkort ja leisten.