Johlige fragt... Claudia Fortunato zu ihren Erfahrungen bei den Friedensverhandlungen zu Syrien in Genf

Johlige fragt… Claudia Fortunato zu ihren Erfahrungen bei den Friedensverhandlungen zu Syrien in Genf

Diejenigen fragen, die etwas besonderes erlebt haben oder Expertinnen und Experten auf einem bestimmten Gebiet sind, finde ich wichtig. Um auch die Leserinnen und Leser dieses Blogs daran teilhaben zu lassen, gibt es die Kategorie “Johlige fragt…”. Die Interviews, die hier erscheinen, können in der Regel auch für Publikationen oder Websites verwendet werden, aber fragt bitte vorher bei mir an!

 

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Claudia Fortunato im Flüchtlingscamp Darashakran in der kurdischen Region im Irak.

Claudia Fortunato arbeitet seit Februar 2016 für den Kurdischen Nationalrat, der ein Teil der syrischen Opposition ist, und begleitete die Friedensverhandlungen zu Syrien in Genf. Ich wollte es genau wissen und habe ein Interview mit ihr geführt.

 

Du arbeitest seit Februar für den Kurdischen Nationalrat in Syrien und warst in diesem Zusammenhang ein halbes Jahr bei den Friedensverhandlungen in Genf. Was ist der Kurdische Nationalrat eigentlich und wie ist sein Verhältnis zu anderen (kurdischen) Organisationen?

Der Kurdische Nationalrat in Syrien (KNR) ist ein Zusammenschluss von elf syrisch-kurdischen Parteien, Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen und unabhängigen Persönlichkeiten. Der KNR hat nicht nur Aktivistinnen und Aktivisten in Syrien, sondern auch in der kurdischen Diaspora in den meisten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie Europas.

Gegründet wurde er im Oktober 2011 in Qamișlo und 2013 schloss sich der KNR der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte (arab. Kürzel: Etilaf) an. Seit der Oppositionskonferenz im Dezember 2015 in Riad (Saudi Arabien) ist der KNR mit jeweils einem Vertreter im Hohen Verhandlungskomitee (HNC) – so heißt die offizielle Oppositionsvertretung – sowie in der Verhandlungsdelegation vertreten.

Im Gegensatz zur vorherrschenden medialen Darstellung gibt es also eine kurdische Vertretung bei den Friedensverhandlungen, wenngleich diese nach wie vor um Wahrnehmung und Anerkennung kämpfen muss.

Die meisten Menschen, z.T. selbst „Nahostexperten_innen“, wissen nicht, dass die syrischen Kurden keine homogene Gruppe sind. Sie werden als monolithischer Block behandelt, dessen Vertretung seit den Kämpfen um Kobanî gegen den sogenannten Islamischen Staat 2014 – zumindest in der westlichen Medienlandschaft – die Partei der Demokratischen Union, die PYD, verkörpere. Die Menschenrechtsverletzungen, welche die PYD – im Übrigen ein Ableger der PKK –, ihre Polizeikräfte Asayiș sowie ihre bewaffneten Arme YPG/YPJ begehen und die von Human Rights Watch, Amnesty International und KurdWatch umfangreich dokumentiert wurden, werden dabei totgeschwiegen. Erst im August startete die PYD in Nordsyrien eine neue Verhaftungs- und Ausweisungswelle gegen den KNR, deren erstes Opfer der Präsident des Kurdischen Nationalrats, Ibrahim Biro, wurde … Entschuldige, ich schweife ab, aber diese Ungerechtigkeit macht mich eben wütend.

Die PYD jedenfalls ist eine kurdische Partei, mit welcher der KNR nach drei gescheiterten Abkommen, eher nicht mehr zusammenarbeitet. Abseits davon sind die Kontakte zu zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie z.B. dem Jesidenrat und der Assyrischen Demokratischen Bewegung, aber auch Jugend- und Frauenorganisationen sehr vielfältig. Auch die transnationalen Kontakte zu kurdischen Organisationen in den angrenzenden Staaten werden gepflegt. Das lag allerdings nicht in meinem Verantwortungsbereich.

 

Der kurdische Nationalrat ist ja Teil der syrischen Opposition. Wer gehört noch dazu und wie haben sich die Delegationen bei den Friedensverhandlungen zusammengesetzt?

Die Oppositionsdelegation ist in der Tat sehr heterogen. Ich versuche das mal möglichst knapp und verständlich zusammenzufassen.

Wie gesagt bildete sich die Oppositionsvertretung im Dezember 2015 in Riad und wird offiziell von den Staaten der ISSG, der International Syria Support Group, anerkannt. Dort trafen sich ca. 100 Exil-Politiker, bewaffnete Oppositionelle, islamistische Hardliner, Deserteure der syrischen Armee und andere Dissidenten, zum Teil so moderat, dass sie immer noch in Damaskus leben können. Nicht eingeladen waren jihadistische Gruppen, wie z.B. die Nusra Front und der selbst erklärte Islamische Staat. Ebenso wenig die PYD wegen ihrer vielfach belegten Zusammenarbeit mit dem Assad-Regime. Wer meines Erachtens noch unbedingt fehlte, jedoch auch selten bis nie genannt wird, sind die politischen Aktivisten, die 2011 friedlich auf der Straße waren, um für Freiheit und Demokratie in Syrien zu protestieren, und die jetzt verstreut und weitestgehend einflusslos in Flüchtlingscamps im Libanon, dem Irak, der Türkei und in Europa leben.

Die größten Zusammenschlüsse, die sich in Riad trafen, sind die bereits erwähnte Nationale Koalition (Etilaf), die Freie Syrische Armee (FSA) und der National Coordination Body for Democratic Change (NCB). Es ist eine nur schwer zu überschauende Anzahl an Gruppen, ohne Zweifel die breiteste Oppositionsdelegation, die in den letzten Jahren zusammengestellt werden konnte.

Den Vorsitz des Hohen Verhandlungskomitee erhielt der frühere syrische Ministerpräsident Riyadh Hijab, das Verhandlungsteam wird geleitet von drei Persönlichkeiten: dem desertierten Generalmajor Asaad al-Zoubi, der einem einflussreichen sunnitischen Klan aus dem Süden Syriens entstammt, von George Sabra, einem marxistischen Christen aus der Region um Damaskus, und von Mohammed Alloush von einer der stärksten sunnitisch-islamistischen Milizen, der Armee des Islam (Jaish al-Islam). Man beachte: Kein Kurde, keine Frau. Stattdessen fielen sowohl al-Zoubi als auch Alloush in den letzten Monaten durch arabischen Chauvinismus und kurdenfeindliche Äußerungen auf.

Dieser kurze Überblick soll die schwierige Situation, in welcher sich der Kurdische Nationalrat in dreierlei Hinsicht befindet, verdeutlichen. Erstens sind die Kurden insgesamt spätestens seit den 60er Jahren eine unterdrückte, entrechtete Gruppe in Syrien. Zweitens erfahren die Mitgliedsparteien des KNR seit der Machtergreifung der PYD in Nordsyrien auch noch von Kurden selbst Repressionen. Und drittens müssen sie sich innerhalb der Oppositionsdelegation und auf der internationalen Bühne durchschlagen.

 

Wenn es so viele unterschiedliche Gruppen gibt, gab es da überhaupt Punkte, auf die man sich gemeinsam einigen kann? Und was ist das Trennende?

Du liegst vollkommen richtig mit der Frage. Die Positionen der unterschiedlichen Gruppen sind so vielfältig wie die vertretenen Gruppen selbst. Die Grundpositionen, auf welche sich die Opposition Anfang des Jahres geeinigt hat, waren zum einen, dass ernsthafte Verhandlungen eine dauerhafte Waffenruhe, ein Ende der Belagerungen und Bombardierungen durch das Assad-Regime sowie den Zugang für humanitäre Hilfe voraussetzen. In den Gesprächen wurden dann die Forderungen nach der Freilassung der politischen Gefangenen, nach der Abdankung von Bashar al-Assad und seiner Regierung sowie nach der Aufarbeitung der begangenen Verbrechen in den Vordergrund gestellt.

Mit Vorschlägen für die Gestaltung eines zukünftigen syrischen Staates, welcher politisch dezentralisiert und säkular organisiert ist sowie kulturelle, soziale und politische Rechte für Minderheitengruppen garantieren soll, konnte sich der KNR jedoch noch nicht durchsetzen.

Ein trauriger Beweis davon ist das erst kürzlich vom HNC veröffentlichte Papier „Executive Framework for a Political Solution“, in dem die Grundprinzipien für eine Übergangsphase dargelegt werden. In diesem Dokument wird der arabische und islamische Charakter von Syrien festgeschrieben, Minderheitenrechte nur unzulänglich bedacht und durch die Vorsehung einer lediglich administrativen Dezentralisierung jede Hoffnung auf mehr regionale Selbstbestimmung zunichte gemacht. Dennoch gibt der KNR nicht auf und versucht weiter, innerhalb der Opposition für ein zukünftiges Syrien zu kämpfen, das den Werten von Freiheit, Demokratie, Inklusivität und Gerechtigkeit verpflichtet ist.

 

Wie muss man sich solche Friedensverhandlungen vorstellen? Was passiert da vor und hinter den Kulissen?

Zuerst einmal muss man festhalten, dass es kein prototypisches Verfahren von Friedensverhandlungen gibt. Es gibt zwar diplomatisches Handwerkszeug und Erfahrungen aus vergangenen Friedensprozessen, aber Patentrezepte gibt es leider nicht. Jeder Verhandlungsprozess muss spezifisch auf den jeweiligen Konflikt zugeschnitten werden.

Nachdem bei Genf I und II die UN-Sonderbeauftragten Kofi Anaan und Lakhdar Brahimi mit dem Versuch direkte Gespräche zu initiieren gescheitert sind, versuchte der neue UN Special Envoy, Staffan de Mistura, durch sein Konzept der „Proximity Talks“ die Gespräche in Gang zu setzen. Es gab also keine direkten, sondern nur indirekte Gespräche. Der Sonderbeauftragte und sein Team sprachen abwechselnd mit Opposition und Regime. Daneben trafen sie sich auf informeller Ebene mit weiteren Gruppen, z.B. dem Women’s Advisory Board, der Civil Society Group und eher regime-nahen Oppositionsgruppen wie der Moskau-Kairo-Gruppe oder der Damaskus Plattform.

Nachdem die Runde im April 2016, auf Grund von vermehrten Brüchen der Waffenruhe durch das syrische Regime, von Seiten des HNC ausgesetzt wurde, ging der UNO-Vermittler zu einem Verfahren über, das er mit den Begriffen „Technical Talks“ und „Shuttle Diplomacy“ überschrieb. Sein Team reiste also quer durch den Mittleren Osten und Europa und traf sich mit unterschiedlichen beteiligten Konfliktparteien.

Das ganze Konzept strotzte vor Intransparenz. War es für den KNR schon bei den offiziellen Gesprächen in Genf schwierig, der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen, wurde es in der Phase ab Mai, wo nur noch informell Treffen hier und dort stattfanden, schier unmöglich, Einfluss auf den Friedensprozess auszuüben.

Gleichzeitig wurde immer deutlicher – und mittlerweile wird das auch offen gesagt –, dass eine Rückkehr an den Verhandlungstisch im Wesentlichen von einer Einigung zwischen den USA und Russland abhängt. Bei den derzeitigen Entwicklungen ist davon also nicht allzu bald auszugehen.

 

Und was ist bei den Verhandlungen raus gekommen?

Das ist eine sehr schwierige Frage, deren Beantwortung mich auch traurig macht. Schauen wir auf die Verhältnisse im Land selbst, hat sich im Jahr 2016 nichts verbessert. Assad konnte seine Position durch die Hilfe von Russland, dem Iran und der Hisbollah festigen und ausweiten. Die Menschen in von der Opposition gehaltenen Gebieten hungern und haben kaum Zugang zu medizinischer Versorgung. Täglich sterben Menschen und die Zahl an Flüchtlingen steigt immer weiter. Zwei Anläufe für Waffenruhen sind gescheitert. Der sogenannte IS konnte nur unzureichend zurückgedrängt werden. Ergo: Kein Grund zu Optimismus.

Auf dem diplomatischen Parkett kann wahrscheinlich als Fortschritt gewertet werden, dass der HNC als bisher breitestes Oppositionsbündnis Bestand hatte und höchstwahrscheinlich weiterarbeiten wird. Auch die Unterstützung der ISSG Staaten ist nach wie vor vorhanden. Zudem kündigte die EU an, eine aktivere Rolle in der Stärkung demokratischer Akteure sowie humanitärer Missionen spielen zu wollen. Auch die UNO hat noch nicht aufgegeben und der neue Generalsekretär António Guterres machte den syrischen Konflikt zu einem Top-Thema auf seinem Arbeitsplan.

Kurzum: Optimistisch ist niemand, aber hier geht es um Menschenleben und mithin um die Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens. An Aufgeben ist also auch nicht zu denken.

 

Nach allem, was du dort erfahren und erlebt hast, wie siehst du die Zukunft von Syrien? Gibt es eine Chance auf Frieden? Und was muss dafür getan werden aus deiner Sicht?

Hätte jemand eine Lösung für diesen komplexen Konflikt parat, würde ihm dies ohne Zweifel den Friedensnobelpreis sichern. Leider existiert diese einfache Lösung nicht. Die innersyrischen und internationalen Problem- und Interessenlagen sind zu unterschiedlich und verzwickt.

Was sich gezeigt hat, ist, dass dieser Konflikt kurz- oder mittelfristig nicht militärisch zu entscheiden ist. Jeder, der das anstrebt, nimmt eine unvorstellbare menschliche Katastrophe in Kauf – und Syrien kann schon jetzt als die Menschheitskatastrophe des 21.Jahrhunderts gesehen werden. Das heißt, dass der diplomatische Weg der einzig gangbare bleibt.

Was ich mir wünschen würde, ist, dass alle Beteiligten anfangen, Menschen vor machtpolitische, ökonomische und geostrategische Interessen zu stellen. In der Welt, in der wir leben, wird dieser Wunsch leider nicht erfüllt werden.

Was wir trotz allem tun können, um nicht an der Situation zu verzweifeln, ist in unserem Umfeld über den Konflikt aufzuklären und Bewusstsein zu schaffen, Solidarität verbal und ganz praktisch zu üben mit den Syrerinnen und Syrern – egal welcher Herkunft oder Konfession –, die unsere neuen Nachbarinnen und Nachbarn sind, aber auch mit jenen, die als Flüchtlinge in den angrenzenden Staaten Syriens leben oder im Kriegsland geblieben sind. Wir können auch friedliche Aktivisten dabei unterstützen, sich zu reorganisieren und ihrer Stimme aus der Diaspora Gehör zu verschaffen. Auch gibt es eine Vielzahl an Initiativen, die versuchen Visionen für ein Syrien nach dem Krieg zu entwerfen, die sich für Aussöhnung und Wiederaufbau engagieren. So fern dieses Ende auch erscheinen mag, sind es diese Initiativen, die dabei helfen, dass Menschen nicht an den apokalyptischen Ausmaßen des Krieges verzweifeln.

 

Und die Kurden? Wie sieht ihre Zukunft aus?

Eine Friedenslösung für Syrien müsste auch eine Vereinbarung für die mehrheitlich kurdisch bewohnten Gebiete im Norden Syriens beinhalten. Dabei wird es notwendig sein, diesen Gebieten gewisse Sonderrechte zur Selbstbestimmung und -verwaltung zuzugestehen, wenn man separatistischen Tendenzen innerhalb der kurdischen Bevölkerung vorbeugen möchte. Außerdem bräuchte es auch Bestimmungen zur Entschädigung und Wiedergutmachung des Unrechts, das vor 2011 an den syrischen Kurden begangen wurde. Zudem wird es notwendig sein, die autoritär durchgesetzte Alleinherrschaft der PYD in diesen Gebieten zu beenden und gerechte, demokratische Verhältnisse zu schaffen, um das Grenzland zur Türkei dauerhaft zu befrieden. Der KNR hat bereits Visionen für eine solche Region in Syrien, welche die Vielfalt der eigenen Bevölkerung sowie Demokratie und Menschenrechte achtet und schützt. Von der PYD, als kleine Schwester der PKK, ist jedoch nicht zu erwarten, dass sie sich auf eine solche progressive Vision und eine Teilung der politischen Macht einlassen wird.

 

Noch mal zurück zu deinem Aufenthalt in Genf. Was genau hast du in Genf gemacht?

Das lässt sich schnell zusammenfassen. Gemeinsam mit einem Kollegen haben wir das Büro des Kurdischen Nationalrats in Genf betreut, Übersetzungen von Stellungnahmen des KNR auf Arabisch und Englisch angefertigt, die Online-Präsenzen betreut, Medienanfragen koordiniert, Pressekonferenzen, Diskussionsrunden und Workshops sowie Termine mit Diplomatinnen und Diplomaten organisiert. Während der Verhandlungsrunden im März und April waren wir vor Ort, um die beiden Vertreter des KNR innerhalb des HNC und der Delegation organisatorisch und durch Übersetzungen zu unterstützen.

 

Und wie geht’s jetzt weiter? Wirst du weiter an dem Thema dran bleiben?

Ich werde die Entwicklungen in Syrien und insbesondere bzgl. der syrischen Kurden auf jeden Fall weiter verfolgen und begleiten. Außerdem habe ich mir vorgenommen, meine Erfahrungen mit möglichst viele Menschen zu teilen und zu diskutieren in der Hoffnung Interesse und Engagement zu wecken.

Nichtsdestotrotz gibt es da auch noch eine Masterarbeit, die seit geraumer Zeit meiner Aufmerksamkeit harrt, und wahrscheinlich wird vorerst wieder Potsdam zu meinem Lebens- und Aktionsmittelpunkt.

 

Liebe Claudia, ich danke dir herzlich für dieses Gespräch!