Konzeption einer LINKEN Flüchtlings- und Einwanderungsgesetzgebung

Konzeption einer LINKEN Flüchtlings- und Einwanderungsgesetzgebung

Deutschland ist längst – auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen – ein Einwanderungsland. Die asyl- und aufenthaltsrechtlichen Regelungen werden dem jedoch nicht gerecht. In allen Parteien wird darüber nachgedacht, wie eine Einwanderungsgesetzgebung ausgestaltet werden kann. Bisher fehlte es an einer LINKEN Konzeption. Die Vorsitzenden der LINKEN Fraktionen in Berlin, Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern haben sich schon lange für einen Paradigmenwechsel in der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik ausgesprochen und deshalb eine Arbeitsgruppe beauftragt, einen Konzeptentwurf zu erarbeiten.Diese Konzeption liegt nunvor und wurde im Juni 2017 der Partei und der Öffentlichkeit zur Diskussion übergeben.

Zur „Konzeption einer LINKEN Flüchtlings- und Einwanderungsgesetzgebung“ geht es hier.

Zur Kurzfassung der „Konzeption einer LINKEN Flüchtlings- und Einwanderungsgesetzgebung“ geht es hier.

 

Die Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Thüringer Landtag, Susanne Henning-Wellsow hat zur Veröffentlichung des Konzeptentwurfs eine Erklärung verfasst, die ich hier zitieren will, weil sie eine gute Zusammenfassung der Prämissen des Entwurfs darstellt:

„„Unser übergeordnetes Ziel an ein modernes und humanes Einwanderungsrecht war, menschenrechtliche Mindeststandards bei der Einwanderung wiederherzustellen, Zugänge zu sozialer Sicherung und gesellschaftlicher Teilhabe zu erleichtern und entsprechende Hürden abzubauen“, skizziert Susanne Hennig-Wellsow den Anspruch an die Konzeption.
Das geltende Aufenthaltsgesetz verfolgt die „Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern“. Im Mittelpunkt eines LINKEN Einwanderungsrechtes steht der soziale Anknüpfungspunkt einer Person. Ein sozialer Anknüpfungspunkt ist gegeben, wenn familiäre Beziehungen bestehen oder Familienangehörige von Personen einreisen, eine Ausbildung/Studium oder Erwerbstätigkeit aufgenommen werden soll, eine Gemeinwohltätigkeit begonnen wird oder sonstige Gründe für eine soziale Verwurzelung sprechen.
Ein LINKES Einwanderungsrecht ergibt einen Anspruch auf Zugang zu Integrations- und Sprachkursen, berechtigt zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und garantiert den Zugang zu Bildungseinrichtungen und den vollumfänglichen Zugang zu Institutionen und Angeboten der Sozialberatung. Illegalisierte Menschen sollen einen legalen Aufenthaltsstatus erhalten. Die Anordnung einer Ausreisepflicht ist die Ultima Ratio und kann nur unter strengsten Voraussetzungen auferlegt werden. Inklusion statt Abschiebung ist der Grundsatz dieses Einwanderungsrechts.
Menschen sollen dort, wo sie leben, arbeiten, soziale Bezüge aufbauen und zum gesellschaftlichen Leben beitragen, auch einen abgesichert und dauerhaft bleiben können. „Wir möchten den gesetzlichen Rahmen schaffen, dass Menschen tatsächlich frei über ihren Lebensort bestimmen können“, unterstreicht Hennig-Wellsow. Dazu seien durchlässige Grenzen und ein sicherer Rechtsstatus hier lebender Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit Voraussetzung.
Um die rechtliche Gleichstellung von AsylbewerberInnen zu anderen Menschen herzustellen, schlägt Die LINKE vor, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen.
Susanne Hennig-Wellsow zusammenfassend: „Das vorliegende linke Konzept für ein Einwanderungsgesetz soll für Rechtssicherheit sorgen und der Einwanderungsgesellschaft, in der wir sowieso schon leben, einen Rahmen geben. Dabei konzentrieren wir uns auf drei Säulen: Die erste Säule ist das Asylrecht, das Menschen in Not schützt. Die zweite Säule ist ein Einwanderungsgesetz, das es ermöglicht, als Einwanderer regulär in der BRD zu leben. Die dritte Säule ist das Staatsangehörigkeitsrecht, das den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft öffnet.““

 

Und weil es Menschen gibt, die lieber im Browser lesen als im PDF, dokumentiere ich hier den Text der Konzeption (das ist dann aber nicht ganz so schick formatiert, wie im oben verlinkten PDF…):

 

Konzeption einer LINKEN Flüchtlings- und  Einwanderungsgesetzgebung

Vorschlag der „Projektgruppe Einwanderung“ im Auftrag der Linksfraktionen der Landtage Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

An der Konzeption haben mitgewirkt:
Jan Becker, Rechtsanwalt, Berlin
Sabine Berninger, MdL Thüringen
Dr. Thomas Falkner, Referent Linksfraktion Brandenburg
Andrea Johlige, MdL Brandenburg
Dr. Ibrahim Kanalan, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. Lena Kreck
Dr. Matthias Lehnert, Rechtsanwalt, Berlin
Henriette Quade, MdL Sachsen-Anhalt
Christian Schaft, MdL Thüringen, Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE
Jörg Schindler, Rechtsanwalt, stv. Landesvorsitzender DIE LINKE Sachsen-Anhalt
Tobias Schulze, MdA Berlin

Berlin, 29. Januar 2017

 

Vorwort zu einem Konzept eines linken Einwanderungsgesetzes

Einwanderung und Migration – das gab es historisch schon immer. Menschen setzen sich in Bewegung. Sie überwinden Grenzen und ganze Kontinente. Die Gründe dafür sind vielfältig: Flucht vor Hunger und Armut und politischer Verfolgung zählen genauso dazu, wie die Suche nach einem Arbeitsplatz. An ihren neuen Lebensorten entwickeln Menschen soziale Bezüge und tragen zum gesellschaftlichen Leben bei. Sie gründen Familien, beteiligen sich am politischen Gemeinwesen und am kulturellen Leben.

Die internationale Gemeinschaft hat im 20. Jahrhundert aus dieser Realität gelernt. Sie hat allen Menschen unveräußerliche Schutz- und Teilhaberechte zugesprochen – und damit die Grenzen der Nationalstaaten zu durchlässigen Grenzen gemacht: Menschen, die flüchten, erhalten ein Recht auf Asyl, das ihr Leben schützt. Die Integrität der Menschen, die ihren Lebensort verändern, wird rechtlich anerkannt. Sie erhalten grundlegende Rechtsansprüche. Auch in den nationalen Verfassungen der Nachkriegszeit und der Konstitutionalisierung der Europäischen Union und des Europarats ist dieser Lernprozess ablesbar.

Heute muss dieser Lernprozess, der im 20. Jahrhundert errungen wurde, nochmals verteidigt, durchgekämpft und neu orientiert werden. Die massiven Fluchtbewegungen der letzten Jahre, die anstehenden Fluchtbewegungen durch verschärfte Krisen und den Klimawandel sowie die Verbreitung der Erkenntnis, dass alle Gesellschaften Einwanderungsgesellschaften waren und sind, machen eine Neuordnung erforderlich.

Deshalb schlägt die LINKE ein eng mit dem europäischen und internationalen Menschenrechtsschutz verzahntes Einwanderungsgesetz vor. Es treibt den Lernprozess weiter und akzeptiert die Realitäten: Dort wo Menschen leben, arbeiten und ihre sozialen Bezüge aufbauen und zum gesellschaftlichen Leben beitragen, sollen sie auch die Möglichkeit haben, im vollen Sinne am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und einen abgesicherten und dauerhaften Rechtsstatus als Einwanderer erhalten. Darüber hinaus muss die Chance auf eine vollumfängliche Staatsbürgerschaft all jenen offen stehen, die über einen längeren Zeitraum in der BRD leben oder hier geboren werden.

Die Optionen der anderen Parteien im Umgang mit dieser Entwicklung sind unrealistisch. Sie verkennen den Umstand, dass wir schon längst in einer Einwanderungsgesellschaft leben und sie verkennen den Charakter der Migration. Bei den Diskussionen um die Einwanderung geht es nicht nur um Fragen der Inklusion; es geht grundlegender um die Frage, was die soziale Basis unseres Gemeinwesens ist.

  • Das “Volk” der Rechten: Der Selbstbetrug der Homogenität.

Die Rechten orientieren sich an der unrealistischen und ahistorischen Idee eines “homogenen” Nationalvolks. Sie verkennen damit, dass die Gesellschaft, in der wir leben, schon immer vielfältig war und sich immer schon durch vielfältige Grenzbeziehungen hindurch entwickelt. Die Rechten hängen damit einer unrealistischen Illusion an. In der Praxis führt das zu Spaltung, Unsicherheit und Desintegration: Wer die Grenzen schließt und sich abschottet, verletzt internationales Recht und verfassungsmäßige Verpflichtungen. Wer die Mär von der Leitkultur und der Homogenität des deutschen Volkes hochhält, steuert an den Realitäten vorbei. Er sorgt für Unsicherheit bei den Zugewanderten, die sich im Lichte der ständigen Drohung, nicht dazu zu gehören oder gehen zu müssen, nie sinnvoll ins gesellschaftliche Leben integrieren können. Er sorgt auch für Unsicherheit bei den angestammt hier Lebenden und der öffentlichen Verwaltung, da der Umgang mit den entstehenden Lebensformen und Kooperationsverhältnissen nicht anerkannt, sondern nur verdrängt wird.

  • Das “Volk” der Neoliberalen

Die Neoliberalen wollen ein “Volk” der “nützlichen” Leistungsträger*innen. Sie fordern, Einwanderung einzig an ökonomischen Kriterien auszurichten. Statt die Vielfalt der Einwanderungsbewegungen rechtlich zu ordnen, wird ein Abschottungsregime errichtet, das nur die gut ausgebildeten und ökonomisch nützlichen Zuwandernden zulässt. Damit träumen auch die Neoliberalen einen gefährlichen Traum: Dass soziale Inklusion sich letztlich nur an (kurzfristigen) Nützlichkeitskriterien orientiert. Die “Überflüssigen” gehören hier schlicht nicht zum “Volk”. Eine Gesellschaft – das erfahren wir tagtäglich – lässt sich allerdings nicht nach einseitigen “ökonomischen” Nützlichkeitskriterien organisieren. Länder, wie bspw. die USA, die ihr Einwanderungsrecht an ökonomischen Kriterien ausrichten, nehmen damit stets illegale Einwanderung und einen breiten informellen Sektor auf dem Arbeitsmarkt in Kauf.

 

Beide Illusionen – die konservative und die neoliberale –  scheitern regelmäßig an der Realität. Weder innere Homogenität noch ökonomischer Erfolg aller kann dauerhaft gesellschaftlich hergestellt werden. Beide Utopien enden daher in weitreichenden Exklusionstendenzen und wirken repressiv. Sie sind nicht geeignet, das soziale Leben in Deutschland und Europa zu stabilisieren und menschengerecht weiterzuentwickeln.

Demgegenüber orientiert sich DIE LINKE am Leitbild einer demokratischen und sozialen Einwanderungsgesellschaft und damit eines anderen “Volks”: Wir setzen auf ein „inklusives Wir derer, die hier leben“. Das entspricht der gelebten Praxis in vielen Städten und Gemeinden, in vielen größeren und kleineren Unternehmen, in Gewerkschaften genauso wie in Sportvereinen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Es gilt, der sowieso schon bestehenden gesellschaftlichen Praxis einen rechtlichen Rahmen zu geben und dort ordnend einzugreifen, wo das bisherige Abschottungsregime durch Willkür und falsche Regeln für Unsicherheit und Desintegration sorgt.

DIE LINKE stellt sich damit in die Tradition der Lernfortschritte des 20. Jahrhunderts. Sie orientiert ihre Einwanderungspolitik an den Verpflichtungen des internationalen und europäischen Rechts und des Grundgesetzes. Die Forderung nach „Offenen Grenzen für Menschen in Not“ und dem grundsätzlichen Anspruch auf Bewegungsfreiheit („Offene Grenzen für alle Menschen“) aus dem Erfurter Programm der LINKEN kann nur so verstanden werden, dass die Gesellschaften für Einwanderungsbewegungen so offen und durchlässig wie möglich gehalten werden. Dies macht allerdings einen rechtlichen Regulierungsbedarf erforderlich, der es ermöglicht, einen abgesicherten Rechtsstatus zu erhalten und den bestehenden Status zu verbessern. Damit wäre auch ein Weg angegeben, der auf die Realisierung von „Bewegungsfreiheit“ hinwirkt: Durch die schrittweise Realisierung globaler sozialer und demokratischer Rechte auf unterschiedlichen Ebenen (national, inter- und transnational) und Foren (parlamentarische Gesetzgebung, Gerichtsbarkeiten, inter- und transnationale Politikregime etc.) verlieren die territorialen Staatsgrenzen an exkludierender Macht. Sie werden also nicht abgeschafft, sondern in längerfristiger Perspektive von ihren problematischen Effekten befreit und auf diese Weise aufgehoben.

Im Folgenden unterbreiten wir Vorschläge für ein linkes Einwanderungsgesetz, das für Rechtssicherheit sorgt und der Einwanderungsgesellschaft, in der wir sowieso schon leben, einen Rahmen gibt. Dabei konzentrieren wir uns auf drei Säulen: Die erste Säule ein Einwanderungsgesetz, das es ermöglicht, als Einwanderer regulär in der BRD zu leben. Die zweite Säule ist ist das Asylrecht, das Menschen in Not schützt.Die dritte Säule ist das Staatsangehörigkeitsrecht, das den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft öffnet. Wie in unseren Ausführungen deutlich werden wird, ist die Migration eine Frage des Lebens in all seinen vielfältigen Bezügen. Sie reichen von der formal-rechtlichen Anerkennung über die soziale Inklusion bis zum Zugang zum Arbeitsmarkt. In jedem dieser Bereiche sind politische Maßnahmen erforderlich, finanzielle Investitionen genauso wie regulierende Eingriffe. Diese vierte Säule kann jedoch durch dieses Konzept lediglich als “Folgerecht” angerissen werden. Unser Vorschlag für ein linkes Einwanderungsgesetz beschränkt sich somit zunächst auf die drei genannten Säulen und stellt lediglich Verweise zur vierten Säule her.

 

 

Säule 1: Einwanderungsgesetz

A. Prämissen für ein LINKES Einwanderungsgesetz

Im Erfurter Programm der Partei DIE LINKE aus dem Jahr 2011 stellen wir fest, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Und das ist es nicht erst seit den 2000er Jahren. Bereits die Geschichte der beiden deutschen Staaten nach dem Ende des zweiten Weltkrieges war durch die Anwerbung von Gast- und Vertragsarbeiter*innen geprägt. Die „Gäste“ bauten sich hier eine Lebensgrundlage auf und begannen, Teil der Gesellschaft zu werden, sofern man sie ließ. Denn schon in den 1960er und 1970er Jahren zeigte sich: Die Einwanderungspolitik in Ost wie West war geprägt durch eine Verwertungslogik, die ebenso wenig neu ist.

Einwanderung wurde und wird noch immer danach gestaltet, wer für das Kapital bzw. die Staatszwecke als vermeintlich „nützlich“ und „unnütz“ gilt. Einen seiner letzten gesetzgeberischen Höhepunkte erreichte dieses Denken mit dem im Jahr 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz („.Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“).

Entwickelt aus der Perspektive der Bedarfe des deutschen Arbeitsmarktes sollte das Gesetz dazu dienen, Zuwanderung zu begrenzen. Wer nicht schon auf der Sonnenseite des Lebens steht, für den bleiben die Türen in der Regel geschlossen. Diesem Leitmotiv und den asylrechtsverschärfenden Maßnahmen der Großen Koalition als Reaktion auf die Entwicklung der Flüchtlingszahlen der letzten Jahre, muss etwas entgegengesetzt werden. Und was wir dem entgegensetzen wollen, muss sich an unserer Leitidee von Migrations- und Integrationspolitik messen lassen. Auch hier ist das Erfurter Programm wieder unsere Grundlage, in dem es heißt: „DIE LINKE lehnt eine Migrations- und Integrationspolitik ab, die soziale und politische Rechte danach vergibt, ob Menschen für das Kapital als »nützlich« oder »unnütz« gelten.“

Wir wollen die aktuelle Debatte um ein Einwanderungsgesetz nicht der rechten Stimmungsmache von AfD, CSU und CDU überlassen. Ebenso wie die Idee und Praxis des bestehenden konservativen Abschottungsregimes stellt der Vorschlag der SPD zu einem Einwanderungsgesetz keine Lösung dar, die unserem Anspruch an eine progressive Einwanderungspolitik gerecht wird. Solange Migration auf einen ökonomischen Charakter reduziert wird und sich das “Recht auf Einwanderung” an den Bedarfen des deutschen Arbeitsmarktes statt an den Bedürfnissen der Migrant*innen orientiert, bedeutet dies, die Realität und Ursachen von Migration zu verleugnen. Darüber hinaus ist es eine absurde und unrealistische Vorstellung, dass der “Bedarf” an Zuwanderung jährlich per Bundestagsbeschluss definiert werden könne.  Ein Punktesystem, wie es die SPD vorschlägt, verkennt zudem Selektionsmechanismen in den Bildungs- und Qualifizierungssystemen anderer Länder. Es verfestigt so Ungleichheitsstrukturen, solange nur die zuwandern dürfen, die das notwendige soziale und kulturelle Kapital besitzen, um in ihrem Herkunftsland einen entsprechenden Zugang zum jeweiligen Bildungssystem zu erhalten, um wiederum einen hochqualifizierten Abschluss erreichen zu können, der anschließend zur Einwanderung berechtigt.

Dass der Bundestag alljährlich eine “Obergrenze” der Einwandernden festlegen soll, widerspricht nicht nur rechtsstaatlichen Prinzipien, eine solche Kompetenz birgt auch die Gefahr der politischen Instrumentalisierung. Je nach Mehrheit könnte über einen solchen Mechanismus statt technokratischer Arbeitsmarkterfordernisse auch einfach eine fremdenfeindlich motivierte Ablehnung jeglicher Einwanderung durchgesetzt werden. Wenn eine Mehrheit unter dem Slogan “Das Boot ist voll” an die Macht kommt, wer hindert sie daran, die Zahl der Migrant*innen auf 0 zu setzen?

Ein Punktesystem, das sich an den jeweiligen Erfordernissen des deutschen Arbeitsmarktes orientiert, beinhaltet auch eine innere Unlogik aus der Erfahrung beruflichen Aufstiegs: Im  Wirken beruflicher Konkurrenz sind nicht automatisch die am besten Ausgebildeten auch die beruflich erfolgreichen Personen: Wir alle kennen die Widersprüche zwischen guter Ausbildung einerseits und fehlender Erfüllung und/oder Erfolglosigkeit im Beruf andererseits.

Demgegenüber kennen wir auch diejenigen, die trotz schlechter Startbedingungen (im Punktesystem bedeutete das eine geringe Punktzahl) aufgrund individueller Beharrlichkeit oder auch durch Zufälligkeiten Koryphäen ihres Berufs werden und dort eindrucksvolle berufliche Leistungen erbringen. Letztendlich bedeutete ein Punktesystem beruflichen Konformismus und verschultes, tendenziell unkreatives Mittelmaß.

Aus der Einwanderung der “Bestbepunkteten” folgt nicht automatisch auch (dauerhafter) beruflicher Erfolg – das gesellschaftliche Risiko, aber auch die Chance beruflicher Umorientierung, muss also einkalkuliert werden.

Ob mit oder ohne Punktesystem: Es genügt nicht, die Zugewanderten einreisen zu lassen und dann ihrem Schicksal zu überlassen. Aus der Anwesenheit in unserer Gesellschaft entstehen Ansprüche auf soziale Sicherheit und gleichberechtigten Zugang, auch bei vorübergehender oder auch dauerhafter Erfolglosigkeit am Arbeitsmarkt. Letztendlich muss also Zuwanderung die sich stetig und schnell wandelnden Bedürfnisse und Wahrscheinlichkeiten beruflicher Werdegänge einkalkulieren. Ein Punktesystem kann genau das nicht und ist daher weder den menschlichen Bedürfnissen angemessen, noch kann es die eigene gesellschaftsegoistische Prämisse “Nützlichkeit” überhaupt dauerhaft einlösen.

Es gilt daher, einen eigenen Vorschlag vorzulegen, wie ein Einwanderungsgesetz aussehen kann, das sich nicht der Verwertungslogik unterwirft, sondern das Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen nach Deutschland kommen, die Möglichkeit gibt – rechtlich abgesichert – hier Fuß fassen, soziale Teilhabe erleben und soziale Anknüpfungspunkte finden zu können. Ein solches Gesetz bietet auch die Möglichkeit, die von rechtlichen Normen losgelöste, aber in aktuellen Verfahren und Prozessen gängige und genutzte Einteilung in Menschen mit einer vermeintlich guten und solche mit schlechter Bleibeperspektive – und die daraus abgeleitete Verweigerung von Angeboten und Leistungen – zu beenden. Ein linkes Einwanderungsgesetz muss das Gegenteil tun und Menschen überhaupt erst eine wirkliche Bleibeperspektive bieten.

Dabei muss das Gesetz die bestehenden aufenthaltsrechtlichen Fragestellungen und Regelungen bündeln und diese a) systematisieren, b) liberalisieren und c) entbürokratisieren.

 

Systematisieren bedeutet, Einwanderungsmöglichkeiten und -wege eindeutig aufzuzeigen. Statt über 60 verschiedener Aufenthaltstitel braucht ein funktionierendes und seinem Namen Rechnung tragendes Zuwanderungsrecht, ein Einwanderungsgesetz, das klar die Möglichkeiten einer sanktionsfreien, legalen Zuwanderung beschreibt, sowie ein modernes Staatsbürger*innenrecht, das die gleichberechtigte, demokratische und gesellschaftliche Teilhabe von Migrant*innen möglich macht.

Liberalisieren bedeutet, das Asylrecht als Grundrecht wiederherzustellen und aus einem Verbotsgesetz, wie es das Aufenthaltsgesetz derzeit ist, ein Erlaubnisgesetz zu machen und damit Einwanderung aus verschiedensten individuellen Gründen und Lebenslagen ohne drohende Sanktionen und Benachteiligungen zu ermöglichen. Dabei muss es mit der Unterstützung der Behörden als beratender Instanz möglich sein, einen „Spurwechsel“ zwischen dem Asylrecht und geplanten Einwanderungsrecht zu vollziehen. „Spurwechsel“ bedeutet, dass die hier vorgeschlagenen Säulen I und II als entsprechende “Spuren” zu betrachten sind. Liegt ein Antrag auf Asyl vor, ruht die Säule I, bis durch die unterstützende Behörde festgestellt wird, dass der Weg über das Einwanderungsgesetz gesucht werden sollte, wenn bspw. kein  Asylgrund, aber ein sozialer Anknüpfungspunkt vorliegt. Gleiches gilt für den umgekehrten Fall. So soll ein modernes Einwanderungsrecht den individuellen Einwanderungsgründen gerecht werden und einer bestmöglichen Integration Rechnung tragen.

Entbürokratisieren bedeutet, die Voraussetzungen für eine legale Einreise und eines entsprechenden Aufenthaltes eindeutig zu formulieren und die zuständigen Ausländer*innenbehörden zu Einwanderungsbehörden umzugestalten, die eine beratende Funktion haben. Dabei sind im Verfahren die Behördenaufgaben zu bündeln, um schnellstmöglich die Aufenthaltsgewährung zu ermöglichen.

Im Wesentlichen muss ein solches Gesetz geprägt sein von dem Anspruch a) menschenrechtliche Mindeststandards bei der Einwanderung zu setzen, b) Zugänge zu sozialer Sicherung, dem Arbeitsmarkt, Bildungseinrichtungen und gesellschaftlicher Teilhabe zu erleichtern und dort, wo sie noch nicht vorhanden sind, zu ermöglichen und damit c) entsprechende Hürden abzubauen. Das heißt, einen Zugang zu einem sozialen und kulturellen Umfeld ermöglichende und Teilhabe und Unterstützungsleistungen für die Integration garantierende Rahmenbedingungen zu formulieren.

Politischer Anspruch und konkretes Ziel einer linken Einwanderungsgesetzgebung muss die rechtliche Gleichstellung aller in Deutschland lebenden Menschen sein. Leitgedanke der sich an aufenthaltsrechtliche Regelungen anschließenden Folgeentscheidungen muss daher auch ein klarer Bruch mit der jetzigen Praxis sein. Wir wollen nicht länger soziale Rechte, Rechte des Zugangs zu Bildung und des Zugangs zum Arbeitsmarkt an den Aufenthaltsstatus knüpfen, sondern legen auch hier die Forderung ‚Gleiche Rechte für alle‘ zu Grunde.

Zudem muss eine Einwanderungsgesetzgebung, die die tatsächlichen Voraussetzungen für Freizügigkeit und gelingende Zuwanderung schaffen will, von einer inklusiven Offensive im Bereich der Sozial- und Bildungspolitik begleitet werden, die einerseits gleiche Rechte garantiert, andererseits aber auch notwendige spezielle Beratungs-, Begleitungs- und Förderangebote für Zuwandernde macht.

Aufgabe und Anspruch dieses Papiers ist es nicht, alle im Zusammenhang stehenden  Notwendigkeiten und Anschlussfragen umfassend zu behandeln. Dass inklusive Bildung (im Übrigen ganz unabhängig von Einwanderung) konkrete Voraussetzungen braucht, dass gute Arbeit für alle auch Instrumente zur Verhinderung von Arbeit/Erwerbstätigkeit ohne Erlaubnis (sog. Schwarzarbeit) und der damit einhergehenden Ausbeutung braucht, dass Länder und Kommunen für die Erfüllung der ihnen durch Bundesgesetze übertragenen Aufgaben eine belastbare finanzielle Ausstattung brauchen, haben wir als LINKE an anderen Stellen richtig analysiert und detailliert mit Konzepten und Vorschlägen untersetzt.

Für diese Perspektive auf Einwanderungs-, Migrations- und Inklusionspolitik ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Ansatzpunkte und Vorschläge für einen solchen wollen mir mit der Konzeption vorlegen. Wir sind uns dabei bewusst, dass wir die bestehenden systematischen Zwänge des kapitalistischen Systems nicht mit einem abrupten politischen Umbruch herbeiführen werden. Daher muss der Schritt hin zu einem LINKEN Einwanderungsgesetz als ein transformatorischer Schritt betrachtet werden, der die Grundlage legt für ein menschenwürdiges Ankommen und Teilhaben im Einwanderungsland Deutschland.

 

B. Zur Logik des derzeitigen Aufenthaltsrechts

Das geltende Aufenthaltsgesetz verfolgt den Zweck der „Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern“. Durch diese Brille muss dieses Gesetz gelesen werden, auch wenn es unstreitig auch Wege nach Deutschland öffnet.

Jenseits einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen setzt die legale Einreise in der Regel das (etwa durch Arbeitsvertrag oder Verpflichtungserklärung) verbriefte Versprechen voraus, Sozialleistungen nicht in Anspruch zu nehmen. Ungelernte haben nur in Ausnahmefällen Zugang zum Arbeitsmarkt; von einer Zustimmung der Vergabe des Arbeitsplatzes an eine*n  Nicht-EU-Bürger*in sind nur Topverdiener*innen und Absolvent*innen deutscher Hochschulen befreit.

 

C. Struktur und Charakter eines Einwanderungsgesetzes

Im Folgenden soll ein Vorschlag für eine Einwanderungsgesetzmatrize unterbreitet werden. Im Gegensatz zu Säule II, in der wir in weiten Teilen an der Struktur des bisherigen AsylG festhalten und nur konkrete Änderungen vorschlagen – die gleichwohl sicherlich eine radikale Abkehr von der derzeitigen Asylpolitik darstellen – möchten wir in dieser Säule ein von dem jetzigen Verständnis eines Aufenthaltsrechts gänzlich losgelöstes Einwanderungsrecht vorschlagen. Wie in den einleitenden Worten zu dieser Säule schon dargelegt, streben wir einen von den Grundsätzen anders gedachten Gesetzentwurf an. Die Logik dieses Einwanderungsgesetzes ist nicht Begrenzung und Abschottung. Die Logik ist Legalisierung und Inklusion. Dies bedeutet, dass das vorgeschlagene Einwanderungsrecht zwar nach wie vor Aufenthaltstitel kennt, jedoch sollen die Gesetzmäßigkeiten umgekehrt werden: Von der Ausnahme des erlaubten Aufenthalts im heutigen System wird sich gelöst und ein Einwanderungsrecht vorgeschlagen, welches jeder Person die Möglichkeit der legalen Einreise, des dauerhaft legalen Aufenthalts und der sozialen wie politischen Inklusion verschafft.

Damit ändert sich beispielsweise auch der Charakter der zuständigen Behörde: Die Einwanderungsbehörden sind nach dem hier unterbreiteten Vorschlag nicht Teil der Ordnungsbehörden, sondern im weitesten Sinne der Sozialverwaltung untergeordnet.

Die folgenden Ausführungen erinnern mitunter an konkrete gesetzliche Ausgestaltungen, sind aber zunächst noch als Vorschlag zur politischen Verständigung zu verstehen. Sie leiten mit einem allgemeinen Abschnitt zu Begriffsbestimmungen ein und formulieren in den weiteren Abschnitten die Anforderungen an legale Aufenthalte, behördliche Zuständigkeiten sowie die Rechtsmittel.

I. Begriffsbestimmungen

  1. Sozialer Anknüpfungspunkt

Ein sozialer Anknüpfungspunkt ist in der Regel gegeben, wenn

  1. familiäre Beziehungen bestehen oder Familienangehörige von Personen einreisen, die legal einreisen;
  2. eine Ausbildung/Studium aufgenommen werden soll und die dazu erforderlichen Voraussetzungen vorliegen;
  3. eine Erwerbstätigkeit aufgenommen werden soll (bei Selbstständigkeit: und deren Voraussetzungen vorliegen)
  4. eine Gemeinwohltätigkeit aufgenommen wird (Tätigkeit in einem gemeinnützigen Verein, in der freiwilligen Feuerwehr/THW, in einer sonstigen karitativ tätigen Organisation, staatliche Beratungstätigkeit usw…)
  5. sonstige Gründe für eine soziale Verwurzelung im Bundesgebiet sprechen.
  1. Familie
    Familienmitglieder im Sinne des Aufenthaltsrechts sind

    1. die leibliche Kinder und jene Kinder, die dauerhaft im Haushalt der Person lebten bzw. leben sollen, die einwandern;
    2. die Ehepartner*innen und Lebenspartner*innen;
    3. Unverheiratete, sofern eine familiäre oder familienähnliche Bindung besteht, das heißt, wenn die Personen für einander einstehen wollen.

II. Legale Einreise

  1. Die Einreise ist legal, wenn es sich um unbegleitete minderjährige Personen handelt, ohne dass es weiterer Voraussetzungen bedarf. Bei volljährigen Personen ist die Einreise legal, wenn
    1. kein Ausschlusstatbestand vorliegt und
    2. kein Einreiseverbot besteht.
  2. Ein Ausschlusstatbestand liegt dann vor,
    1. wenn ein Antrag auf internationalen Schutz oder auf die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nicht gestellt wird oder bereits rechtskräftig abgelehnt wurde, und
    2. kein sozialer Anknüpfungspunkt im Bundesgebiet besteht oder geschaffen werden soll.

Die Prüfung von Anträgen auf Asyl, internationalen Schutz und nationaler Abschiebungsverbote richtet sich nach AsylG. Zuständig für die Prüfung ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

  1. Die legale Einreise setzt in der Regel voraus, dass
    1. ein Visum ausgestellt worden ist,
    2. die*der Einreisende sich mit einem Reisepass ausweisen kann bzw. die Identität auf andere Weise plausibilisieren kann,
    3. der Reisegrund angegeben wird.
  2. Ein Visum ist innerhalb von vier Wochen auszustellen.
  3. Die legale Einreise ist mit Ausnahme von Einreisen zur Asylantragstellung ausgeschlossen bei Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass
    1. die Einreise dem Zweck
      1. der Spionage oder
      2. der Begehung einer Straftat dienen soll oder
    2. es sich bei dem*der Einreisewilligen um eine Person handelt, die den Tatbestand des § 6-12 VStGB (Kriegsverbrechen) erfüllt hat oder
  4. Die legale Einreise ist ausgeschlossen bei Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass der*die Einreisewillige Waffen oder Sprengstoff mit sich führt.

III. Legaler Aufenthalt

  1. Eine legale Einreise berechtigt zu einem befristeten Aufenthalt für ein Jahr (Aufenthaltserlaubnis). Bei minderjährigen Personen berechtigt die legale Einreise zu einem befristeten Aufenthalt bis zum Tag der Volljährigkeit, ohne dass es weiterer Voraussetzungen bedarf.
  2. Nach Ablauf des Jahres wird vermutet, dass ein sozialer Anknüpfungspunkt besteht und kein Einreiseverbot besteht. Der soziale Anknüpfungspunkt muss nicht dem der Einreise entsprechen. Ein erfolglos durchgeführtes Asylverfahren steht einem Aufenthalt wegen eines sozialen Anknüpfungspunktes nicht entgegen.
  3. Die Vermutung wird nur widerlegt, wenn die Einwanderungsbehörde festgestellt hat
    1. dass kein sozialer Anknüpfungspunkt besteht oder
    2. die Einreise entgegen eines Einreiseverbots erfolgt ist.
  4. Wird die Vermutung nicht widerlegt, hat die Person mit Aufenthaltserlaubnis Anspruch auf einen unbefristeten Aufenthaltstitel (Niederlassungserlaubnis). Wird die Vermutung durch die Einwanderungsbehörde durch Feststellungsbescheid widerlegt, steht der einreisenden Person hiergegen der Verwaltungsrechtsweg offen. Widerspruch und Klage gegen den Feststellungsbescheid haben aufschiebende Wirkung. Im Zeitraum fehlender Bestandskraft des Feststellungsbescheides verlängert sich die befristete Aufenthaltserlaubnis bis zum jeweiligen Ablauf der Rechtsmittelfrist.
  5. In den Fällen der Einreise zum Zwecke der Durchführung des Asylverfahrens (und des internationalen Schutzes) wird von den Voraussetzungen der legalen Einreise nach II.3. a. und b. abgesehen.
  6. Personen, die als Asylberechtigte sowie international Schutzberechtigte anerkannt wurden oder bei denen – aufgrund einer Erkrankung oder einer sonstigen Gefahr für Leib oder Leben oder einer drohenden Verletzung der EMRK bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland – ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt wurde, erhalten einen unbefristeten Aufenthaltstitel (Niederlassungserlaubnis).

IV. Erwerbsarbeit und Inklusion

  1. Die Einreise berechtigt zu (entgeltfreien) Integrations- und Sprachkursen.
  2. Jeder Aufenthalt berechtigt zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.
  3. Einwandernden steht unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus der Weg in Kitas, Schulen, Berufsausbildungen und Universitäten offen. Mit bedarfsgerechter Sprachförderung in den Bildungsstätten, mit Sensibilisierungen und Qualifizierungen der Mitarbeiter*innen im Bereich interkulturelle Kompetenz und Diversitymanagement und mit aufgabengerechter Personalausstattung folgen dem Anspruch des*der Einzelnen auch die praktischen Voraussetzungen für Inklusion und Bildungserfolg.
  4. Der Aufenthalt berechtigt zum vollumfänglichen Zugang zu Institutionen und Angeboten der Sozialberatung.
  5. Soweit die Voraussetzungen vorliegen, haben Migrant*innen mit ihrer Einreise Anspruch auf Leistungen nach SGB II. Für Asylbewerber*innen, bei denen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II nicht vorliegen, gilt § 23 SGB XII (Sozialhilfe).

V. Legalisierung

  1. Seit drei Jahren gestattete Geflüchtete erhalten eine Aufenthaltserlaubnis über drei Jahre.
  2. Sind Personen illegal eingereist oder bei Gesetzeseinführung illegalisiert oder geduldet gemäß § 60a. AufenthG oder anderweitig ausreisepflichtig, haben sie nach den allgemeinen Regeln das Recht, einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund eines sozialen Anknüpfungspunkts (1. Säule) oder einen Asylantrag (2. Säule) zu stellen. Die Einwanderungsbehörde bzw. das BAMF prüft die Voraussetzungen für ein entsprechendes Aufenthaltsrecht. Ab Antragstellung bis zur Entscheidung über den Antrag besteht ein befristetes Aufenthaltsrecht. Die Einwanderungsbehörde benennt die Frist, bis zu der eine Entscheidung ergeht. Im Übrigen gelten die allgemeinen Regeln des III.2.-4.
  3. Eine Legalisierung ist ausgeschlossen, wenn ein Einreiseverbot gemäß II.5.-6. bei Einreise bestand oder später entstanden ist.

VI. Zuständige Einwanderungsbehörde

  1. Zuständig für die Entscheidung über die Aufenthaltstitel nach dem Einwanderungsgesetz ist die Einwanderungsbehörde am Ort des Aufenthalts. Die bisher bestehenden Ausländerbehörden als Teil der Ordnungsbehörden werden aufgelöst. Die untere Einwanderungsbehörde wird bei den Kreisen/kreisfreien Städten gebildet und ist Auftragsverwaltung als Teil der Sozialbehörden.
  2. Die legale Einreise aus sozialen Anknüpfungspunkten ist bei der unteren Einwanderungsbehörde des Orts des beabsichtigten Grenzübertritts, des zukünftigen Aufenthaltsorts oder einer Deutschen Botschaft im Ausland zu beantragen. Über den Antrag ist innerhalb von drei Monaten zu entscheiden. Auf legale Einreise besteht ein Rechtsanspruch. Die legale Einreise darf nur abgelehnt werden, wenn ein Ausschlusstatbestand (also kein sozialer Anknüpfungspunkt besteht oder hergestellt werden soll und auch kein Antrag auf internationalen oder nationalen Schutz gestellt wird, s. II.2.) oder ein Einreiseverbot (s. II.5. und II.6.) besteht. Gegen die Ablehnung steht der Person der Rechtsweg vor den Verwaltungsgerichten offen.
  3. Die untere Einwanderungsbehörde hat eine Beratungsfunktion. Sie hat zudem eine Unterstützungsfunktion und gewährleistet den Rechtsanspruch auf Besuch von Sprachkursen.
  4. Die untere Einwanderungsbehörde hat eine Bündelungsfunktion inne. Anträge von Personen mit Aufenthaltserlaubnis an andere Behörden (Arbeitsagentur, Jobcenter, Wohngeldstelle, BAföG-Amt, Schulbehörden usw…) nimmt die untere Einwanderungsbehörde entgegen und leitet sie an die zuständigen Behörden weiter.
  5. Die untere Einwanderungsbehörde ermittelt von Amts wegen soziale Anknüpfungspunkte sowie Einreiseverbote und arbeitet zu diesem Zweck mit anderen staatlichen Behörden zusammen.
  6. Die untere Einwanderungsbehörde ist zuständig für die Feststellung und Durchsetzung der Ausreisepflicht nach einem bestandskräftig abgelehnten Asylverfahren (Erfolglosigkeit des Antrags der 2. Säule) bzw. nach bestandskräftigem Feststellungsbescheid fehlender sozialer Anknüpfungspunkte/Bestehen eines Einreiseverbots (Erfolglosigkeit des Verfahrens nach der 1. Säule). Bei Vollzug der Durchsetzung der Ausreisepflicht ist die untere Einwanderungsbehörde auch zuständig für die von Amts wegen durchzuführende Prüfung, ob die Abschiebung gemäß VIII.3. (fehlende Existenzgarantie des Aufnahmestaates) durchgeführt werden kann und ob Abschiebehindernisse im Sinne von VIII.4. (Reiseunfähigkeit, fehlende Rückkehrmöglichkeit, neue Umstände) bestehen. In den Fällen neuer Umstände gem. VIII.4.c ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu beteiligen. Bestehen Abschiebeverbote, ist die untere Einwanderungsbehörde ebenfalls zuständig für die Erteilung der periodisch zu prüfenden Aufenthaltserlaubnis bzw. der ggf. zu erteilenden Niederlassungserlaubnis gemäß VIII.5.

VII. Rechtsmittel

  1. Rechtsmittel gegen Entscheidungen der zuständigen Behörden richten sich nach VwGO.
  2. Rechtsmittel gegen ablehnende Entscheidungen haben aufschiebende Wirkung, soweit sich die Person im Bundesgebiet befindet. Für die Dauer des Verfahrens hat die Person einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
  3. Soweit sich die Person nicht im Bundesgebiet befindet, kann das Gericht die Einreise vorläufig gestatten. § 80 Abs. 5 VwGO findet entsprechende Anwendung.

VIII. Ausreise

  1. Ein*e Migrant*in ist berechtigt, ohne erneute Prüfung wieder einzureisen, wenn er*sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Niederlassungserlaubnis ist.
  2. Ein*e Migrant*in ist verpflichtet auszureisen, wenn keine Aufenthaltserlaubnis und keine Niederlassungserlaubnis (mehr) besteht, Rechtsmittel gegen ablehnende Entscheidungen bestandskräftig abgelehnt wurden und kein Abschiebehindernis vorliegt.
  3. Ein zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht ist zulässig, wenn die Voraussetzungen des VIII.2. vorliegen und der Zielstaat eine konkret-individuelle und nachvollziehbare Zusicherung abgegeben hat, dass er den*die Migrant*in aufnimmt und dem*der Migrant*in bei einer Rückkehr eine menschenwürdige Existenz gewährleistet ist.
  4. Ein Abschiebehindernis im Sinne von VIII.2 besteht in folgenden Fällen:
    1. Die Person ist nicht reisefähig. Ist nur ein Familienmitglied einer im Übrigen ausreisepflichtigen Familie reiseunfähig, besteht das Abschiebungshindernis für die gesamte Familie. Der Nachweis der Reiseunfähigkeit bemisst sich nach den allgemeinen Vorgaben für den Nachweis von Erkrankungen nach dem AsylG.
    2. Der Zielstaat gewährt – u.a. im Fall nicht vorliegender Dokumente – keine (Wieder)Einreise.
    3. Es werden nachträglich – durch Hinweise oder einen formalen Antrag der Person oder durch andere nunmehr bekannte Hinweise – neue oder bislang unbekannte Tatsachen oder Beweismittel bekannt, die darauf hindeuten, dass bei der Person nunmehr ein sozialer Anknüpfungspunkt besteht oder dass die Person – nach den Maßgaben des AsylG – ein Recht auf Asyl, internationalen Schutz oder die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes hat. Liegen derartige Umstände vor, ist eine Prüfung von Amts wegen einzuleiten. Im Fall eines Schutzrechts nach den Maßgaben des AsylG ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu beteiligen.
  5. Personen, die weder nach III. noch nach V.1 ein legales Aufenthaltsrecht haben, aber eine Ausreise nicht stattfindet und eine Abschiebung gem. VIII.3 und 4. nicht durchgeführt wird oder durchgeführt werden kann, erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr, die um ein weiteres Jahr verlängert wird, wenn die Ausreise oder Abschiebung weiterhin nicht durchgeführt wird oder werden kann. Wird die Abschiebung nach zwei Jahren weiterhin nicht durchgeführt, so wird eine Niederlassungserlaubnis erteilt. Besteht vor Ablauf der zwei Jahre ein sozialer Anknüpfungspunkt, so gelten die Regeln des Abschnitts III. (Legaler Aufenthalt).

 

Säule 2: Asylgesetz

A. Grundprämissen

Das Asylrecht im weiteren Sinne dient dem Zweck, den Menschen ein Bleiberecht zu verschaffen, die aus mehr oder weniger erzwungenen Gründen ihren Herkunftsort verlassen haben, weil ihnen dort eine Gefahr droht und/oder ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist. Während das Einwanderungsrecht im hier verstandenen Sinne die Anknüpfung in Deutschland betrifft, geht es beim Asylrecht um die Zustände im Herkunftsstaat.

Tragendes Prinzip eines humanen Schutzrechts ist die Prämisse, dass jedes mehr oder weniger erzwungene Verlassen des Herkunftslandes legitim ist und ein Schutzrecht nach sich ziehen muss. Andererseits wird einem vorgeblichen „Missbrauch“ des Asylrechts ohnehin und zusätzlich vorgebeugt, wenn ein effektives Einwanderungsrecht im hiesigen und unten geforderten Sinne andere ebenso legitime Gründe – in Form sozialer Anknüpfungspunkte – für einen Verbleib in Deutschland einbezieht.

Das bestehende materielle Recht des internationalen und nationalen Schutzes – in Gestalt der §§ 3, 4 AsylG und der EU-Qualifikationsrichtlinie sowie des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG – stellt in seinen Grundlinien und durch die potentiellen Spielräume für Behörden und Gerichte einen hinreichenden Rahmen für schutzbedürftige Menschen bereit.

Dies trifft auch auf die Situation von Menschen zu, die aus primär ökonomischen Gründen ihren Herkunftsort mehr oder weniger freiwillig verlassen und in der öffentlichen Debatte als sog. „Wirtschaftsflüchtlinge“ und damit als „falsche“ oder „schlechte“ Flüchtlinge diffamiert werden – denn das geltende Flüchtlingsrecht hält hinreichende Spielräume bereit, auch Menschen Schutz zu gewähren, deren soziale und wirtschaftliche Menschenrechte missachtet werden.

Die wesentlich erforderlichen Änderungen des gesetzlichen Rahmens betreffen daher vielmehr das Verfahrensrecht, also die Prüfung von Anträgen auf nationalen und internationalen Schutz.

Ein emanzipatorisches Einwanderungs- und Flüchtlingsrecht muss zweifelsohne die Forderung nach einer gänzlichen Abschaffung des Zuständigkeitssystems der Dublin III-VO beinhalten; der Vorschlag eines linken Einwanderungsrechts mit rein nationaler Stoßrichtung kann aufgrund des europarechtlichen Anwendungsvorrangs eine solche Forderung allerdings nicht einschließen.

B. Erforderliche Änderungen im Einzelnen

Die folgenden Punkte stellen eine Zusammenstellung der wesentlichen Änderungen dar, die für ein in diesem Sinne angemessenes Asylverfahren erforderlich sind. Sie orientieren sich in ihrer Abfolge an der Chronologie des Asylverfahrens und des bestehenden Asylgesetzes.

I. Antragstellung/Verfahren/Entscheidung

Das Asylverfahren muss in jedem Einzelfall als faires und seriöses Verfahren ausgestaltet werden, welches den Antragsteller*innen eine vertrauensvolle Atmosphäre entgegenbringt und nicht grundsätzlich von Zweifel, Misstrauen und Druck gegenüber den Antragsteller*innen und ihrem Vortrag geprägt ist, sondern den Antragsteller*innen und ihrem Vortrag grundsätzlich Glauben schenkt.

Dem muss zunächst durch folgende Rechtsänderungen im Detail Rechnung getragen werden:

In den deutschen Auslandsvertretungen kann ein Visum zur Asylantragstellung in Deutschland beantragt werden. Für die Visumserteilung ist der Grund des Asylbegehrens zu nennen. Dies soll vor allem dazu dienen, die erforderlichen Maßnahmen, z.B. zur Traumatherapie oder der besonderen Unterbringung, nach Einreise kurzfristig zu ermöglichen. Die Anträge werden nur hinsichtlich des beabsichtigten Verfahrenswegs (welche Säule?) geordnet. Eine materielle Prüfung findet nicht statt.

Durch eine Änderung des § 25 Abs. 4 AsylG muss allen Antragsteller*innen die Möglichkeit eingeräumt werden, zur Anhörung jegliche Personen ihrer Wahl mitnehmen zu können.

Der*die Antragsteller*in muss jederzeit während des Verfahrens Gründe nachtragen können, die er*sie während der Anhörung oder im Wege einer ersten schriftlichen Stellungnahme noch nicht vorgetragen hat; eine dadurch entstehende Verzögerung des Verfahrens muss – entgegen der Regelung des bisherigen § 25 Abs. 3 AsylG – unbeachtlich sein.

Die Zustellungsregelungen bezüglich Entscheidungen und sonstigen Nachrichten müssen geändert werden. Während bislang gem. § 10 AsylG jede unterlassene Anzeige einer Adressänderung zu einer Zustellungsfiktion führt, die ein Verstreichen von Rechtsmittelfristen zur Folge hat, ohne dass der*die Antragsteller*in davon Kenntnis bekommt, muss dies im Sinne eines fairen Verfahrens wie folgt modifiziert werden: Ist ein*e Antragsteller*in unter der ursprünglich genannten Adresse nicht ermittelbar, muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Einwohner*innenmeldeauskunft einholen und jegliche Bemühungen unternehmen, um die neue Adresse zu ermitteln; ist sodann der Verbleib noch immer nicht ermittelbar, werden entsprechende Fristen erst nach Ablauf von drei Monaten in Gang gesetzt, so dass dem*der Antragsteller*in die Möglichkeit verbleibt, sich innerhalb der Zeit über den Stand des Verfahrens zu informieren und von Entscheidungen in evtl. Rechtsmittelfristen Kenntnis zu erlangen.

Um eine angemessene Vorbereitung – alleine oder mit Hilfe einer Beratungsstelle oder eines*einer Anwält*in – gewährleisten zu können, müssen Anhörungstermine mindestens vier Wochen vor dem Termin mitgeteilt werden.

Um Problemen bei der Übersetzung vorbeugen und ein Vertrauensverhältnis gewährleisten zu können, muss jede*r Antragsteller*in das Recht haben, während des Verfahrens und insbesondere für die Anhörung ein*e eigens gewählten Dolmetscher*in auf Kosten der Staatskasse hinzuzuziehen.

Jede*r Antragsteller*in hat das Recht, während des Verfahrens einen Rechtsbeistand zur Verfügung gestellt zu bekommen. Dieser Rechtsbeistand ist staatlich finanziert und für den/die Antragsteller*in kostenfrei.

An einer Verteilung der Asylbegehrenden auf die Bundesländer nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel soll nur festgehalten werden, wenn die Asylbegehrenden bei der Registrierung nicht angeben, dass ein sozialer Anknüpfungspunkt (Familie, Freund*innen, Ärzt*innen, Beratungsstrukturen, an die man sich wenden möchte etc.) besteht.

Da das Asylverfahren im Wesentlichen vom Vortrag des*der Antragsteller*in geprägt ist und der persönliche Eindruck für eine Entscheidung unabdingbar ist, derweil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mittlerweile institutionalisiert dem entgegenwirkt, soll gesetzlich festgeschrieben werden, dass eine Entscheidung über den Asylantrag von der Person getroffen wird, die auch die Anhörung durchgeführt hat. Anhörende und Entscheider*innen erhalten vor der Aufnahme ihrer Tätigkeit eine grundlegende qualifizierte sechsmonatige Ausbildung bzw. Qualifizierung, können und müssen sich durch regelmäßige Fortbildungen weiterbilden und haben obligatorischen Zugang zu Supervision.

Personen, die im Sinne der EU-Aufnahmerichtlinie besonders schutzbedürftig sind, werden in jeder Phase des Asylverfahrens ihren Bedarfen entsprechend behandelt.

II. Unterbringung in der Zeit des Asylverfahrens

Die Antragsteller*innen haben während des Asylverfahrens grundsätzlich das Recht, ihren Wohnsitz – ggf. regional eingeschränkt durch eine Zuteilung nach “Königsteiner Schlüssel” – frei zu wählen. Bei der Wohnungssuche bekommen sie die erforderliche praktische Unterstützung. Im Falle drohender Obdachlosigkeit wird den Antragsteller*innen eine Unterbringung in staatlich organisierter Form gewährleistet.

Es finden keine Schnellverfahren in so genannten “Ankunftszentren” und/oder an Flughäfen statt.

III. Entscheidungen und ihre Maßstäbe

1. Änderung des Grundgesetzes

Das Asylgrundrecht wird wiederhergestellt. Dies bedeutet die Abschaffung des Konzepts der „sicheren Drittstaaten” und der “sicheren Herkunftsstaaten”, also die Streichung des Art. 16 a Abs. 2 und Abs. 3 GG.

Zudem soll in einem neuen zweiten Absatz (Art. 16 a Abs. 2 GG) klargestellt werden, dass eine Verfolgung auch dann vorliegt, wenn eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Menschenrechte zu befürchten ist.

2. Änderung im einfachen Recht

Um die Schutzgründe Asyl, Flüchtlingsschutz, subsidiären Schutz sowie nationale Abschiebehindernisse in einem Gesetz zu bündeln und damit eine Abgrenzung zwischen Asylrecht einerseits und Einwanderungsrecht andererseits zu gewährleisten, sollen nunmehr jegliche dieser Schutzgründe im Asylgesetz aufgeführt werden.

Unabhängig von der Änderung des Grundgesetzes soll § 3 AsylG geändert werden. In § 3 AsylG ist klarzustellen, dass eine Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG auch dann vorliegt, wenn eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Menschenrechte zu befürchten ist. Damit soll gewährleistet werden, dass künftig die Gerichte die Verletzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte als Grund für die Flüchtlingsanerkennung beachten und umsetzen.

Auch müssen sogleich im Hinblick auf die genannten Konzepte des sicheren Drittstaates und des sicheren Herkunftsstaates im einfachen Recht die entsprechenden Bestimmungen der §§ 26a und 29a AsylG gestrichen werden.

Im Asylverfahren kann es allein um die Schutzbedürftigkeit des*der Antragsteller*in gehen: Dies bedeutet auch, dass eine vorgebliche „Täuschung“ über die Identität o.ä. sowie die Verletzung von Mitwirkungspflichten – entgegen des bisherigen § 30 Abs. 3 AsylG – nicht zur Ablehnung des Antrags führen darf.

Im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage soll – mit der parallelen Angleichung der Rechtsschutzmöglichkeiten – die Differenzierung ablehnender Entscheidungen – als offensichtlich unbegründet, unzulässig, (einfach) unbegründet – abgeschafft werden.

Um eine lange Wartezeit mit ungewissem Ausgang zu verhindern, sollen grundsätzlich Entscheidungen spätestens sechs Monate nach Antragstellung getroffen werden.

IV. Krankheitsbezogene Abschiebungshindernisse

Werden krankheitsbezogene Abschiebungshindernisse geltend gemacht oder deuten Umstände auf solche hin, muss die Beweislast des*der Antragsteller*in deutlich gesenkt werden. Konkret bedeutet dies zunächst, dass eine Amtsermittlungspflicht besteht. Diese Pflicht wird lediglich begrenzt durch das Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Dies heißt auch, dass zunächst vor staatlicherseits veranlassten Untersuchungen, Antragsteller*innen erstens hinreichende Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sozialrechtlich finanziert werden müssen. Zweitens muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei Hinweisen auf eine Erkrankung, die sich etwa während der Anhörung ergeben, eine Untersuchung veranlassen, wobei primär zu berücksichtigen ist, dass der*die behandelnde Arzt*in  ein Vertrauensverhältnis zu dem*der Antragsteller*in hat bzw. haben kann.

Insbesondere in Fällen psychischer Erkrankungen muss berücksichtigt werden, dass eine valide Diagnose eines gewissen zeitlichen Rahmens bedarf, sodass in solchen Konstellationen die Entscheidung ggfs. verschoben werden muss.

Diagnosen von Fachärzt*innen wird unabhängig vom Umfang des Attests/der ärztlichen Stellungnahme geglaubt.

Ein krankheitsbezogenes Abschiebungshindernis liegt sodann im Ergebnis – im Gegensatz zum bisherigen § 60 Abs. 7 AufenthG – bei jeder „konkreten Gefahr für Leib oder Leben“ vor. Eine Erheblichkeitsschwelle muss nicht überschritten sein und eine Lebensgefahr oder eine gravierende Verschlechterung muss nicht drohen; es kommt allein auf die Versorgungssituation in der Herkunftsregion, nicht im gesamten Land an.

V. Rechtsmittel

Die restriktive Handhabung des Rechtsschutzes muss im Grundsatz – sowie im Speziellen durch die Angleichung der oben geforderten Angleichung der Entscheidungsarten – abgeschafft werden. Jedem*jeder Antragsteller*in muss ein effektives Rechtsmittel gegen eine ablehnende Entscheidung gewährleistet werden, das genügend Spielraum lässt, erstens, sich zu überlegen, ob gegen eine ablehnende Entscheidung vorgegangen wird, und zweitens, eine*n Rechtsanwältin*in für das Verfahren zu beauftragen, und drittens, für die Begründung des Rechtsschutzes ausreichend Zeit zu haben.

Konkret bedeutet dies, dass gegen jede ablehnende Entscheidung der Verwaltungsrechtsweg nach den allgemeinen Vorschriften der VwGO offenstehen muss. Die Klagefrist beträgt demnach einen Monat. Eine Klage hat in jedem Fall aufschiebende Wirkung, sodass der*die Kläger*in während des Verfahrens ein Bleiberecht in Deutschland hat.

Um auch an dieser Stelle eine lange Wartezeit zu verhindern, soll über Klagen grundsätzlich innerhalb von sechs Monaten entschieden werden.

VI. Kosten

Die grundgesetzliche Garantie effektiven Rechtsschutzes muss untermauert werden durch eine effektive Garantie der Finanzierung, damit eine Klage nicht an finanziellen Mitteln scheitert.

Das bedeutet, dass für eine Klage gegen eine ablehnende Entscheidung bei mangelnden finanziellen Ressourcen prinzipiell Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines*einer Rechtsanwält*in gewährt wird. Auf die gerichtlich prognostizierten Erfolgsaussichten gemäß § 166 VwGO, 114 ZPO kommt es hierbei jedoch nicht an.


3. Säule: Staatsangehörigkeitsrecht

Die in dieser Konzeption unterbreiteten Vorschläge zielen auf eine weitestgehende Gleichstellung Menschen deutscher und nicht-deutscher Staatsangehörigkeit hinsichtlich ihrer politischen und sozialen Rechte. (Siehe hierzu vor allem die 4. Säule dieses Papiers.) Das in diesem Papier ausgearbeitete Aufenthaltsrecht schlägt kurze Wege zur Gewährung eines dauerhaften Aufenthalts vor. Die Differenzierung zwischen Menschen verschiedener Staatsangehörigkeiten auf dem deutschen Bundesgebiet soll minimiert werden.

Als weiterer Baustein einer progressiven Einwanderungsgesetzgebung ist zusätzlich das Staatsangehörigkeitsrecht zu reformieren. Die Einbürgerung stellt den letzten Schritt der aufenthaltsrechtlichen Inklusion dar.

A. Erhaltenswertes

Folgende Regelungen des StAG sollen beibehalten werden:

  • Kinder erhalten die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt bei einem deutschen Elternteil (§ 4 Abs. 1 StAG).
  • Ebenfalls beibehalten wollen wir die Findelkindregelung (§ 4 Abs. 2 StAG).
  • Beibehalten wollen wir zudem die Regelung, dass Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, wenn ein Elternteil ein unbefristetes Aufenthaltsrecht innehat oder als Staatsangehörige*r der Schweiz oder dessen Familienangehörige*r eine Aufenthaltserlaubnis auf Grund des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (BGBl. 2001 II S. 810) besitzt. (§ 4 Abs. 3 Nr. 2 StAG).

B. Erforderliche Änderungen

I. Ius solis (Bodenrecht)

Wir wollen in § 4 den Umstieg auf den Grundsatz des ius solis regeln. Das bedeutet: Für jedes in Deutschland geborene Kind besteht die Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, es sei denn, die Eltern widersprechen und das Kind wird hierdurch nicht staatenlos.

II. Gesenkte Anforderungen an Einbürgerungen

Mehrstaatigkeit soll möglich werden. Daher sollen § 9 Abs. 1 Nr. 1, § 10 Abs. 1 Nr. 4 StAG und § 12 StAG komplett entfallen.

In § 12a StAG wollen wir die Grenze der Strafbarkeit auf Verbrechen (Strafandrohung ab einem Jahr) anheben, die den Anspruch entfallen lässt.

III. Gesenkte Anforderungen an Anspruchseinbürgerung

Die Einbürgerung hat nach 3 Jahren legalen Aufenthalts auf Antrag zu erfolgen. Der Vorbehalt der Sicherung des Lebensunterhalts entfällt. Die Sprachanforderungen werden gesenkt. Weitere Voraussetzung für die Einbürgerung nach 3 Jahren legalen Aufenthalts ist, dass der*die Antragsteller*in

  • die in Art. 1 bis 14 EMRK benannten Menschenrechte sowie das in Art. 3 Abs. 3 GG benannte Diskriminierungsverbot anerkennt und
  • nicht den Tatbestand des § 6-12 VStGB (Kriegsverbrechen) erfüllt hat.

IV. Ausschluss der Rücknahme der Einbürgerung

Zudem wollen wir die Möglichkeit der Rücknahme der Einbürgerung streichen. Falsche Angaben mögen anderweitig pönalisiert werden. Jedoch ist die Folge der möglichen Staatenlosigkeit oder sind die Nachteile, die mit dem (nachträglichen) Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit verbunden sind, nicht verhältnismäßig.

V. Optionspflicht

Die Optionspflicht, also die Pflicht zur Reduktion der Staatsangehörigkeiten bei Volljährigkeit (§ 29 StAG), soll komplett entfallen.

VI. Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit

Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit soll in folgenden Fällen ebenfalls nicht mehr möglich sein:

  • bei Adoption durch einen ausländischen Annehmenden (§ 27 StAG) und
  • bei Dienst in ausländischen Streitkräften (§ 28 StAG).


4. Säule: Zentrale Rechte von Einwander*innen jenseits des Einwanderungsrechts

I. Zum Problem der “SGB-II-Sperre” für Nichtdeutsche

Das Asylbewerberleistungsgesetz wird abgeschafft. Durch diese Regelung sind auch Asylbewerber*innen anderen Personen gleichgestellt.

Die Ausschlussgründe des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II werden aufgehoben. Es gilt die Grundregel des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II: Wer seinen gewöhnlichen Wohnsitz in der BRD hat (§ 7 Abs. 1 S. Nr. 4 SGB II), hat Anspruch auf Leistungen nach SGB II, soweit die anderen Voraussetzungen vorliegen. Damit sind insbesondere Tourist*innen oder andere Personen, die sich vorübergehend in Deutschland aufhalten, von den Leistungen nach SGB II ausgeschlossen.

Durch den Wegfall des AsylblG werden Nichtdeutsche in das reguläre System der SGB I-XII überführt (s. auch zur aktuellen unklaren und komplexen Rechtslage unter Annex, Punkt 4.)

Auch die Ausschlussgründe des § 23 Abs. 2 und 3 SGB XII werden aufgehoben. Damit haben nicht erwerbsfähige Unionsbürger*innen, Personen deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergeben etc. sowie Asylbewerber*innen Anspruch auf Sozialhilfe.

  • 23 Abs. 1 S. 2 SGB XII bedarf einer Änderung, um alle Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt gleich zu behandeln sowie Tourist*innen und Personen, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, einen eingeschränkten Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. § 23 Abs. 1 S. 2 ist wie folgt zu ändern:

Die Einschränkungen nach Satz 1 gelten nicht für Ausländer*innen (bzw. Migrantinnen und Migranten), die einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten werden.

II. Möglichkeiten der politischen Partizipation

Derzeit ist eine politische Partizipation im Sinne von Wahlen neben deutschen Staatsbürger*innen nur Unionsbürger*innen bei Kommunalwahlen möglich. Versuche, über die Landeswahlgesetze das Wahlrecht von EU-Bürger*innen und Nicht-EU-Bürger*innen auszuweiten, sind an den Verfassungsgerichten gescheitert, so zuletzt 2014 in Bremen.

Die herrschende Meinung vertritt, dass es nicht grundgesetzkonform sei, das Wahlrecht weiter für Nichtdeutsche zu öffnen. Denn: Art. 79 Abs. 3 GG (sog. Ewigkeitsklausel) untersagt es, dass Art. 20 GG jemals geändert wird. In Art. 20 Abs. 2 GG steht, dass alle Staatsgewalt „vom Volke“ ausgeht. Die herrschende Meinung legt dies – wie jede andere Stelle im Grundgesetz, die nur von “Volk” spricht – als „vom deutschen Volke“ aus, so auch das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen 1990 und der Bremische Staatsgerichtshof 2014. Das Bundeswahlgesetz kann also nicht ohne Weiteres verfassungsgemäß geändert werden und Migrant*nnen das Recht auf Bundeebene zu wählen und abzustimmen ermöglichen. Die herrschende Meinung geht zudem davon aus, dass entsprechende Änderungen der Landeswahlgesetze verfassungswidrig sind. Solche Regelungen würden gegen das Homogenitätsprinzip verstoßen. Dies besagt im Kern, dass die Länder sich u.a. an die demokratischen Grundsätze des Grundgesetzes halten müssen.

Es gibt aber zunehmend erstarkende juristische Auffassungen in Lehre und Rechtsprechung, die das nicht ganz so absolut sehen. So gab es bei der Bremer Entscheidung etwa ein Sondervotum, das vertreten hat, dass Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG selbst ja vorsieht, dass EU-Ausländer*innen auch auf kommunaler Ebene wählen dürfen. Dieser Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG ist nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eingeführt worden (Stichwort: Vertrag von Maastricht). Eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes ermöglicht deshalb die Einführung verfassungsmäßiger Regelungen zur Inklusion in die politische Entscheidungsfindung in den Wahlgesetzen.

Unserer Auffassung nach sollten alle Menschen über das Wahlrecht verfügen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.

III. Ausweitung der Hilfesysteme

Das in diesem Papier vorgeschlagene Einwanderungsrecht ist wenig komplex und auch für Lai*innen zu verstehen. Dennoch gibt es eine Vielzahl von Rechten (z.B. Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnis, Einbürgerung) und konkreten Voraussetzungen. Das Leben in Deutschland verlangt aber auch jenseits aufenthaltsrechtlicher Fragen mitunter eine große Umstellung im Umgang mit öffentlichen Stellen, Bildungseinrichtungen, im Gesundheitswesen, im Erwerbsleben, der Gerichtsbarkeit. Einwander*innen haben einen Anspruch, umfassend, passgenau und in der Sprache, in der sie sich am besten verständigen können, beraten zu werden. Dies bedeutet, dass die Beratungsangebote deutlich erweitert und erhöht werden.

IV. Zugang zum Arbeitsmarkt: Anerkennung von Abschlüssen

Der formale Zugang zum Arbeitsmarkt verliert an Wert, wenn im Ausland erworbene Bildungsabschlüsse nicht oder nur unter großen Anstrengungen anerkannt werden. Dies widerspricht dem inklusiven Anspruch linker Einwanderungspolitik. Deshalb soll die Anerkennung ausländischer bzw. im Ausland erworbener Abschlüsse nach dem Amtsermittlungsgrundsatz erfolgen. Dies bedeutet konkret: Wird eine Urkunde, die einen Bildungsabschluss belegen will, unter Nennung der verwendeten Sprache vorgelegt, so ist es an der Behörde, in Erfahrung zu bringen, welchem deutschen Abschluss er entspricht. Die Entscheidung ist binnen dreier Monate zu fällen. Sind Weiterbildungen erforderlich, so sind diese unter den Voraussetzungen, unter denen die Ausbildung in Deutschland normalerweise absolviert werden kann (BAföG, duale Ausbildung, Hospitationen etc.), zu ermöglichen. Die Behörde ist beratend und bei der Suche entsprechender Fortbildungsmaßnahmen unterstützend tätig.

 


Annex, FAQ oder Einwände gegen linke Einwände

Ein linkes Einwanderungsgesetz, wie wir es konzepieren, ist keine Abkehr von unserer politischen Position “offener Grenzen für alle Menschen” und auch neoliberal oder -imperial.

I. Keine Abkehr von der offene-Grenzen-Position des Parteiprogramms

“Deutschland ist ein Einwanderungsland. DIE LINKE. lehnt eine Migrations- und Integrationspolitik ab, die soziale und politische Rechte danach vergibt, ob Menschen für das Kapital als „nützlich“ oder „unnütz“ gelten. Wir wollen die soziale und politische Teilhabe für alle in Deutschland lebenden Menschen erreichen. Der Familiennachzug muss sowohl Kindern als auch gleich- und andersgeschlechtlichen Lebenspartnerinnen und -partnern sowie Familienangehörigen zweiten Grades möglich sein. Die Förderung der sprachlichen Entwicklung und die Förderung des Bildungserfolges sind wichtig, aber nicht ausreichend für die Integration. Wir wollen die strukturellen Diskriminierungen beim Zugang zu Bildung, zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und zu sozialen Dienstleistungen beseitigen. Allen in Deutschland lebenden Menschen ist unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus eine Gesundheitsversorgung zu garantieren. Schutzsuchende dürfen nicht abgewiesen werden. Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen.” So steht es in unserem Parteiprogramm. Darüber hinaus wird im Parteiprogramm ein “Recht auf Bewegungsfreiheit” festgehalten, die Forderung nach “Offenen Grenzen” wird erhoben.

Dabei ist aus sozialistischer Perspektive natürlich bedeutsam, dass eine tatsächliche, umfängliche Realisierung von “Bewegungsfreiheit” beinhaltet, dass Menschen tatsächlich frei über ihren Lebensort entscheiden können. Dem stehen heute Kriege, Unterdrückungsverhältnisse, Armut und kapitalistische Ausbeutung entgegen – unter diesen Bedingungen ist Migration in vielen (aber nicht in allen) Fällen keine wirklich freie Entscheidung. Deswegen setzen wir uns für einen “internationalen demokratischen Sozialismus”, also die schrittweise Durchsetzung globaler sozialer und demokratischer Rechte ein, die auch die materielle Grundlage für eine so verstandene Bewegungsfreiheit garantieren. Es handelt sich allerdings dabei nicht um eine wohlfeile “Utopie”; vielmehr steht die LINKE für einen Prozess, der schrittweise die Exklusionsmechanismen nationalstaatlicher Grenzen überwindet.

Ein Einwanderungsgesetz, wie wir es vorschlagen, ist ein Schritt in diese Richtung: Es macht die Grenzen durchlässig für Einwanderungsbewegungen, sichert den Rechtsstatus der hier Lebenden und unterläuft die bestehenden Ausschlusspraktiken.

II. Einwanderung muss nicht neoliberale Dumpingkonkurrenz bedeuten.

Grundsätzlich gilt im Kapitalismus: Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf der Grundlage des Privateigentums an den wesentlichen Produktionsmitteln ist eines seiner konstitutiven Merkmale. Solange also diese Situation besteht, befinden sich (potenzielle und reale) Arbeitnehmer*innen, Scheinselbständige und Subunternehmer*innen usw. … immer in einem starken Machtungleichgewicht und damit tendenziell in einer Erpressungssituation.

Kapitalistische Machtverhältnisse demokratisch überwinden

Diese Erpressungssituation besteht darin, dass sie substanziell zur Existenz auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, während private Unternehmen aus diesem Reservoir sich die profitabelsten auswählen können. Diese Konkurrenzsituation setzt sich im Kapitalismus dann auch regelmäßig in den weiteren Bereichen der Gesellschaft fort: als Mieter*innen, Verbraucher*innen, als Vertragspartner*innen gegenüber großen Banken und Versicherungen, in der Kindererziehung und im Bildungsbereich usw. …, bis hin zu demokratischen Entscheidungsprozessen. Auch hier sehen sich die allermeisten Menschen einem starken Machtungleichgewicht gegenüber, das aus o.g. privaten Eigentumsverhältnissen herrührt. Diese materielle Ungleichheit stellt somit ein alle gesellschaftliche Bereiche durchziehendes “hartes” Machtverhältnis dar. Dieses Machtverhältnis wollen wir in einem demokratischen Prozess überwinden.

Aus der (notwendigen) Existenz der Konkurrenz im Kapitalismus rührt daher auch die Befürchtung, dass durch Einwanderung, also das weitere Hinzukommen von Menschen, die ebenfalls darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen, sich diese Konkurrenz verschärft. Tatsächlich ist richtig, dass unter kapitalistischen Bedingungen eine Vergrößerung der Nachfrage und damit des Bedarfs (an Arbeitsplätzen, an preiswerten Wohnungen, an Kita und Bildung, auch an sozialen Leistungen des Staates im Bedarfsfall) Druck auf die Standards ausübt: Unternehmen können aus dem größeren Reservoir für sie günstigere (=niedrigere) Lohnkosten herausholen, Vermieter*innen können höhere Mieten nehmen oder Willfährigkeiten erwarten, mehr Eltern konkurrieren um das knappe Gut Kita-Platz, Kinder müssen um den Zugang zu besserer Bildung fürchten, wenn die Ressourcen relativ knapper werden. Kurz: Sozialer und ökonomischer Druck können wachsen, Ellenbogenmentalität und abwertendes, gar rassistisches Verhalten erscheinen kurzfristig rationale Antworten, um selbst “durchzukommen”, in dem verschärften Konkurrenzkampf zu bestehen. Soweit teilen wir die Befürchtung, durch Einwanderung entstehe Dumpingkonkurrenz.

Konkurrenzdruck verschwindet nicht durch Ausschluss von Konkurrent*innen

Allerdings kann dieses (tatsächlich bestehende) Problem nicht durch eine Begrenzung von Einwanderung (bzw. die propagandistische Herstellung dieses Zusammenhangs) wirksam bekämpft werden. Insbesondere kann das o.g. ökonomisch in die Gesellschaft eingeschriebene Konkurrenzverhältnis nicht durch Absenkung der Anzahl der Konkurrent*innen fortschrittlich verringert oder gar aufgehoben werden. Im Gegenteil: Die Vorstellung, durch einen Ausschluss bestimmter Gruppen der Bevölkerung aus der gesellschaftlichen Konkurrenz verbessere sich im Kapitalismus die Situation der Verbliebenen, ist falsch (und Merkmal rechter Politik). Denn den “race to the bottom” der Anbieter*innen an Arbeitskraft kann am Ende der*die potenzielle Arbeitnehmer*in nicht gewinnen. Offensichtlich können im Kapitalismus Ausbeutungsverhältnisse nicht beendet werden, wenn Arbeitsplätze zuerst oder gar nur noch von Deutschen abgeschlossen werden können. Die Machtdisparität am Wohnungsmarkt kann nicht durch deutsche Mieter*innen gewonnen werden. Und es ist illusorisch, dass Sozialleistungen, Kita-Plätze und Schulbesuch in Hülle und Fülle vorhanden wären, wenn alle Nichtdeutschen davon ausgeschlossen würden. Tatsächlich stehen sie allein durch den bloßen Gebrauch im Kapitalismus weiterhin unter dem ständigen Verdacht des “Missbrauchs”.

Inklusion durch Anhebung der Standards für alle

Diesen Zusammenhang, dass nämlich Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse nicht durch den Ausschluss ganzer sozialer Gruppen aus dem gesellschaftlichen Prozess beseitigt werden können, ist eine alte Erkenntnis der fortschrittlichen Arbeiterbewegung. Sie hat vielmehr zu Recht einen anderen Weg propagiert und praktiziert, um diese Machtverhältnisse innerhalb des Kapitalismus einzugrenzen (und in ihrer radikalen Variante: über die kapitalistische Logik hinauszutreiben): die Kartellbildung zur Schaffung und Anhebung gleicher (Mindest-)Standards für die davon Betroffenen. Deshalb hat sie zwar gegen Dumpinglöhne gekämpft, aber eben nicht gegen Dumpinglöhner*innen, sondern für gleichen Tariflohn, Mindestlöhne, Höchstarbeitszeiten, Pausenregelungen, Qualifizierungen usw. … Die Arbeiterbewegung hat deshalb gerade nicht den Ausschluss konkurrierender Gruppen aus dem Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, von Schulbildung oder politischer Teilhabe gefordert, etwa gegen Zuzug von ausländischen Arbeitnehmer*innen, gegen das Frauenwahlrecht oder ihr Recht auf gleiche Vollerwerbstätigkeit, ihr Recht auf gleiche Bildungsabschlüsse agitiert. Sondern die fortschrittliche Arbeiterbewegung hat vielmehr die Inklusion dieser Gruppen forciert, um Spaltung und Unterbietung von Standards zu verhindern und sie eben gerade regelnd in eine erfolgreiche gemeinsame Kartellbildung einbeziehen zu können.

Moderne Gesellschaft ist keine geschlossene Volkswirtschaft

In der modernen Migrationsforschung wird zudem das dargestellte Modell der einfachen Erhöhung der Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt durch Zuwanderung infrage gestellt. Denn die Vorstellung, dass die Ausweitung des Arbeitsangebots durch Migration zu sinkenden Löhnen oder Arbeitslosigkeit führt, beruht auf dem einfachsten denkbaren Fall einer geschlossenen Volkswirtschaft mit einem fixen Kapitalstock und einem fixen Arbeitsangebot der einheimischen Bevölkerung. In diesem Fall würde die Zuwanderung von Arbeitskräften tatsächlich einen Druck auf die Löhne ausüben, diese tendenziell senken und im Gegenzug die Kapitalrendite erhöhen.

Diese Lehrbuchvorstellung ist aber in modernen Gesellschaften nicht realistisch. Denn weder ist das Kapital einer Volkswirtschaft fix noch ist eine Volkswirtschaft wie die deutsche geschlossen, sondern durch Handel und Kapitalverkehr mit den internationalen Märkten vielfältig verbunden. Das bedeutet einerseits: Wenn durch erhöhte Konkurrenz die Kapitalrenditen steigen, erhöhen Unternehmen ihre Investitionen, bis das Verhältnis von Kapital zu Arbeit wieder dasselbe Niveau erreicht wie vor der Zuwanderung. Die internationale Mobilität von Kapital beschleunigt diesen Prozess. Unter den Bedingungen flexiblen Kapitals und einer international agierenden Wirtschaft wie in modernen Industriestaaten bleibt also das gesamtwirtschaftliche Lohnniveau zumindest langfristig trotz Migration unverändert.

Tatsächlich zeigen empirische Untersuchungen für die USA, für Deutschland und andere europäische Länder, dass Veränderungen des Arbeitsangebots zumindest auf längere Frist zu keinerlei Veränderung des Verhältnisses von Kapital zu Arbeit führen. So ist das Verhältnis von Kapital zu Output (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) in Westdeutschland von 1960 bis 1998 konstant geblieben, obwohl im gleichen Zeitraum das Arbeitsangebot – gemessen an der Zahl der Erwerbspersonen – um rund ein Drittel gestiegen ist.

Zuwanderung beeinflusst Arbeitsmarkt auch positiv

Es ergibt sich somit die Schlussfolgerung, dass die Zuwanderung von Arbeitskräften nicht zwingend dazu führt, dass auf gesamtwirtschaftlicher Ebene die Löhne fallen und die Arbeitslosigkeit steigt. Dies muss aber nicht für alle Gruppen im Arbeitsmarkt gelten. Arbeit ist kein homogener Produktionsfaktor, sondern unterscheidet sich im Hinblick auf Bildung und Ausbildung, Berufserfahrung, Geschlecht, ethnische Herkunft usw. Diese Gruppen sind nicht perfekte Substitute am Arbeitsmarkt. Insofern hängen die Ergebnisse der Zuwanderung davon ab, inwieweit die zugewanderten Arbeitskräfte bestimmte Gruppen im Arbeitsmarkt ersetzen können oder inwieweit sie ihre Fähigkeiten ergänzen. So kann die Zuwanderung von Ingenieur*innen zwar die Löhne und Beschäftigungschancen einheimischer Ingenieur*innen senken, aber die Arbeitsnachfrage nach Facharbeiter*innen und ungelernten Arbeitskräften erhöhen. Es gibt also volkswirtschaftlich betrachtet durchaus Gewinner*innen und Verlierer*innen der Migration im Arbeitsmarkt.

Migration am Arbeitsmarkt so regulieren, dass Ausschlüsse unterbleiben

Welche Gruppen in welchem Umfang von den Gewinnen und Verlusten betroffen sind, ist aber eine empirische Frage und steht nicht von vornherein fest. Aus der Perspektive fortschrittlicher Politik muss es daher darum gehen, die Migration am Arbeitsmarkt politisch so zu regulieren und zu begleiten, dass Ausschlüsse und Abstiege durch Migration unterbleiben (Stärkung der gewerkschaftlichen Kartellbildung) als auch Aufstiege möglich werden (Bildung, Fortbildung, Qualifizierung). Demzufolge kommen volkswirtschaftliche Studien zum Ergebnis, dass bei einer Zuwanderung von 1% im Jahr im Falle niedrigqualifizierter Zuwanderung bzgl. aller Erwerbstätigen es zu kaum veränderten Arbeitslosigkeitsraten kommt (+0,9% im Niedrigqualifikationsbereich, wovon 1,5% auf die Migrant*innen selbst entfällt und 0,4% auf Arbeitnehmer*innen ohne Migrationshintergrund, dagegen unverändert im mittleren und hohen Qualifikationsbereich, wobei hier sogar bei den Arbeitnehmer*innen ohne Migrationshintergrund die Arbeitslosenquote um 0,04% bzw. 0,01% sinkt, während sie in diesem Bereich bei Arbeitnehmer*innen mit Migrationshintergrund jeweils um etwa 0,2% steigt).

Auswirkungen von Zuwanderung auf den Sozialstaat

Ähnlich komplexer als in der Lehrbuchvorstellung verhält es sich mit den Auswirkungen von Zuwanderung auf den Sozialstaat. Denn die modellhafte Beschreibung, dass sich durch Zuwanderung die Ausgaben der Sozialkassen erhöhen, wird durch die tatsächliche Situation überlagert. Während in der Bundesrepublik 29 % der Personen ohne Migrationshintergrund beitragsfinanzierte Transferleistungen beziehen, sind dies nur 13 % der Personen mit Migrationshintergrund. Umgekehrt erhalten 32 % der Personen mit Migrationshintergrund steuerfinanzierte Transferleistungen, aber nur 20 % der Personen ohne Migrationshintergrund. Die Ursache für den unterschiedlichen Transferbezug von Personen mit und ohne Migrationshintergrund ist im Wesentlichen auf die unterschiedliche Altersstruktur der beiden Bevölkerungsgruppen zurückzuführen. Unter den Personen mit Migrationshintergrund ist ein erheblich kleinerer Teil im Rentenalter, zudem ist ein Teil der Rentenbezieher*innen in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt.

Durchschnittsalter der Migrant*innen beeinflusst Sozialsysteme positiv

Auch auf lange Sicht profitieren die umlagefinanzierten Rentenversicherungssysteme von der Altersstruktur der Personen mit Migrationshintergrund: Die jüngeren Generationen leisten in Deutschland über ihren Lebenszyklus einen erheblich höheren Nettobeitrag zu den Rentenversicherungssystemen als die älteren Generationen. Je jünger die Gruppe, desto höher ist der zu erwartende Nettobeitrag. Zudem profitieren die Rentenversicherungssysteme von den vergleichsweise kurzen Beitragsperioden insbesondere temporärer Migrant*innen, weil die Nettozahlungen bei kürzeren Beitragsperioden häufig niedriger als bei längeren Beitragsperioden ausfallen. Insgesamt ergeben sich für die Rentenversicherungssysteme und andere beitragsfinanzierte Systeme wie die gesetzliche Pflegeversicherung und die Krankenversicherungen durch das junge Durchschnittsalter der Personen mit Migrationshintergrund erhebliche Gewinne, und zwar auch dann, wenn die Nettozahlungen über den Lebenszyklus berechnet werden.

Migrant*innen leisten Finanzierungsbeitrag zu öffentlichen Haushalten

Hinzu kommen weitere Faktoren: So sind bei den Personen mit eigener Migrationserfahrung – das sind rund zwei Drittel der in Deutschland lebenden Personen mit Migrationshintergrund – die Ausgaben für Bildung und Ausbildung vollständig oder zumindest teilweise von den Herkunftsländern finanziert worden. Nach den Ergebnissen dieser Studien leisten die in Deutschland lebenden Ausländer*innen bei der gegebenen Qualifikations- und Erwerbsstruktur in Deutschland pro Kopf einen laufenden Finanzierungsbeitrag zu den öffentlichen Haushalten von rund 2.000 Euro pro Jahr. Dies ist im Wesentlichen auf das geringere Durchschnittsalter der Migrant*innen zurückzuführen. Aber auch wenn man berücksichtigt, dass dieser Finanzierungsbeitrag sinken wird, weil auch die eingewanderte Bevölkerung altert, ergibt sich insgesamt noch ein positiver Finanzierungsbeitrag der eingewanderte Bevölkerung zu den öffentlichen Haushalten: Im Gegenwartswert beträgt der mittlere fernere Finanzierungsbeitrag pro Kopf 11.600 Euro oder, hochgerechnet auf die gesamte eingewanderte Bevölkerung, gut 84 Milliarden Euro.

III. Weshalb die “rain-drain”-Behauptung falsch ist

Zudem wird gegen ein Einwanderungsgesetz angeführt, es würde zu einem “brain-drain” führen, also zu einem Abzug von Wissensressourcen und Kompetenzen aus den Herkunftsländern. Fraglich ist hier, ob sich ein neues Einwanderungsgesetz tatsächlich verschärfend auf einen so verstandenen “brain-drain” auswirkt – faktisch besteht in vielen Bereichen der Wirtschaft schon ein globaler Arbeitsmarkt für Hochqualifizierte. Will man die Tendenz nicht nur propagandistisch beklagen, scheinen zwei Lösungen dafür nahe zu liegen:

 

  1. Die globale Steuerung der Migrationsbewegungen unter Gesichtspunkten der Bedürfnisse der jeweiligen Arbeitsmärkte und gesellschaftlichen Erfordernisse, also polemisch gesprochen: das Modell einer transnationalen DDR, die jeweils ermittelt, wo und was, wie erforderlich ist und das jeweilige Arbeitskräfteangebot steuert und die Ausbildungswege entsprechend plant und vereinheitlicht.
  2. Eine globale Umverteilungspolitik, die über finanzielle Transfers und politischen Austausch sicherstellt, dass sich die Qualität der Ausbildungswege schrittweise angleicht, die finanzielle Anreize für Hochqualifizierte setzt, in ihren jeweiligen Herkunftsländern zu bleiben usw. Eine solche Umverteilungspolitik könnte durchaus ihre Grundlage darin finden, dass ermittelt wird, aus welchen Ländern Menschen einreisen und damit bilaterale Zahlungspflichten westlicher Industriestaaten an andere Länder begründen. Dies wiederum ist aber eine Frage globaler Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, nicht des Einwanderungsrechts.

Menschen nicht zu Objekten administrativer Planung machen

Uns scheint eine globale Steuerung der Einwanderungsbewegung unter Gesichtspunkten der jeweiligen Arbeitsmarktentwicklung, also die Variante a), in unterschiedlicher Hinsicht in die falsche Richtung zu weisen. Sie ist schwer realisierbar, weil es angesichts der Kräfteverhältnisse in der internationalen Politik kaum zu einer kooperativen Ausgleichsplanung kommen wird. Sie ist auch nicht wünschenswert, da sie den Eigensinn von Lebensplanung und Lebensgestaltung nicht ernst nimmt und die Menschen zum Objekt administrativer Planung macht. Demgegenüber sind bspw. Modelle bilateraler Zahlungsverpflichtungen durchaus realisierbar und mit einem “Recht auf Bewegungsfreiheit” (Erfurter Programm) vereinbar.

IV. Zum Problem der “SGB-II-Sperre” für Nichtdeutsche

Nach unserer Konzeption wird das Asylbewerberleistungsgesetz aufgehoben. Durch diese Regelung sind Asylbewerber*innen anderen Personen gleichgestellt. Die Ausschlussgründe des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II müssen aufgehoben werden. Es gilt die Grundregel des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II: Wer seinen gewöhnlichen Wohnsitz in der BRD hat (§ 7 Abs. 1 S. Nr. 4 SGB II), hat Anspruch auf Leistungen nach SGB II, soweit die anderen Voraussetzungen vorliegen. Damit sind insbesondere Tourist*innen oder andere Personen, die sich vorübergehend in Deutschland aufhalten, von den Leistungen nach SGB II ausgeschlossen.

Eines Ausschlusses so genannter wirtschaftlich inaktiver Unionsbürger*innen, anderer Personen, deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt sowie Asylsuchender bedarf es jedoch nicht.

Rechtmäßiger Aufenthalt verbietet Ausschluss von existenzsichernden Leistungen

Nach der bis zum 31.12.2016 geltenden Rechtslage hat das Bundessozialgericht (BSG) in seinen Grundsatzentscheidungen zur verfassungskonformen Auslegung der Ausschlusstatbestände im SGB II und SGB XII betont, dass ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen bereits nach 6 Monaten nicht (mehr) zu rechtfertigen ist, solange die Ausländerbehörde kein Verfahren einleitet, mit dem der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt wird. Gem. Art. 10 VO 492/2011/EU steht weiterhin den Kindern eines*einer Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaats, der*die im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigt oder beschäftigt gewesen ist, und darüber auch dem die tatsächliche elterliche Sorge wahrnehmenden Elternteil, ein Recht auf Aufenthalt für die gesamte Dauer der Ausbildung des Kindes zu. Ist die Ausbildung bei Volljährigkeit des Kindes noch nicht beendet, besteht das Aufenthaltsrecht der Eltern fort, sofern ein weiterer Betreuungsbedarf besteht.

Aus dem EuGH-Verfahren “Martinez Sala” sowie primärem und sekundärem Unionsrecht lässt sich zweifelsfrei ablesen, dass Aufenthalte, die im Einklang mit dem Unionsrecht stehen, dem unbeschränkten Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots von Art. 18 AEUV unterfallen. Das Aufenthaltsrecht im Sinne von Art. 10 VO 492/2011/EU ist ein solches, nämlich ein Recht zum Aufenthalt, und damit im Sinne von Art. 21 AEUV Teil der allgemeinen Unionsbürgerfreizügigkeit, da es im Einklang mit den in den Verträgen und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen steht, konkret den Vorgaben der VO 492/2011/EU. Nur wenn der Aufenthalt eines Unionsbürgers materiell unrechtmäßig oder in den Verträgen oder den Durchführungsbestimmungen die Möglichkeit von Einschränkungen normiert ist, kann der Gesetzgeber vom grundsätzlichen Verbot einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit abweichen.

„Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Ist der Aufenthalt hingegen materiell rechtmäßig und fehlen Einschränkungen oder Ermächtigungen hierzu, gilt das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 18.07.2012 zudem klargestellt, dass der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum als Menschenrecht Deutschen und Ausländer*innen gleichermaßen zusteht und dem Grunde nach unverfügbar ist. Das menschenwürdige Existenzminimum ist unabhängig von der Aufenthaltsdauer und Aufenthaltsperspektive eines*einer Ausländer*in im Bundesgebiet stets durch einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch zu gewährleisten. Das Existenzminimum muss entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 unabhängig von Aufenthaltsgrund und Aufenthaltsperspektive in jedem Fall und jederzeit sichergestellt sein sowie stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf decken. Dieser Anspruch ist innerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes zu verwirklichen.

Der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann und muss nach der o.g. verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht. Bis zur Verlustfeststellung besteht keine Ausreisepflicht und damit auch kein zulässiger Verweis auf eine Rückkehrmöglichkeit ins Herkunftsland. Insbesondere der Ausschluss von Unionsbürger*innen und Personen mit einem Aufenthaltstitel dürfte verfassungsrechtlich nicht zulässig sein.

Neue Rechtslage verschlechtert Ansprüche von EU-Bürger*innen

Durch die ab 01.01.2017 geltende neue Rechtslage werden die Ansprüche von EU-Bürger*innen weiter verschlechtert. Grundsätzlich gilt danach Folgendes: Unionsbürger*innen sind im Zweiten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs von Leistungen der Grundsicherung und der Sozialhilfe ausgeschlossen, wenn sie nicht arbeiten oder aufgrund vorheriger Arbeit Ansprüche auf Grundsicherung für Arbeitsuchende haben, Familienangehörige von solchen Erwerbstätigen sind oder ein Daueraufenthaltsrecht besitzen.

Zur Sicherung des Existenzminimums der von den Leistungen ausgeschlossenen Personen wird zukünftig ein Anspruch auf einmalige Überbrückungsleistungen der Sozialhilfe eingeführt. Dieser ist in der Regel auf einen Monat befristet. In allen diesen Ausschlussfällen wird erst nach fünf Jahren, auch wenn diese Personen hier nicht arbeiten, ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II und Sozialhilfe erworben. Verfassungsrechtlich ist diese Gesetzesregelung höchst fragwürdig, weil das BVerfG in ständiger Rechtsprechung geurteilt hat, dass das physische Existenzminimum von Personen unabhängig von der Staatsangehörigkeit zu sichern ist und insbesondere sich diese Anforderung nach Art. 1 GG nicht am Aufenthaltsstatus relativiert. Daher ist wahrscheinlich, dass diese Neuregelung durch das Bundesverfassungsgericht zumindest kritisch geprüft und ggf. (teilweise) verworfen oder verfassungskonform ausgelegt wird, so dass gleichwohl unter bestimmten Situationen Ansprüche bestehen. Diese Rechtsunsicherheit und auch würdelose “Aushungerpraxis” im Namen einer diskriminierenden Abschottungspraxis muss beendet werden.

V. Empirisch lässt sich ein „Run auf Sozialleistungen“ nicht belegen

Das Beispiel Rumänien und Bulgarien

Beispielhaft sei anhand von Rumänien und Bulgarien die Frage diskutiert, ob es den “Run auf die Sozialleistungen” tatsächlich gibt und ob er volkswirtschaftlich relevant ist. Diese beiden Länder bilden bekanntlich die jüngsten EU-Mitglieder, so dass Leistungsansprüche nach dem SGB II in der BRD bestehen können.

Die Beschäftigungsquote für EU-Ausländer*innen insgesamt betrug im August 2016 55,5 Prozent, die der bulgarischen und rumänischen Bevölkerung 64,3 Prozent. Sie lag damit über dem Niveau der Personen aus den EU-8  (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn) von 54,6 %.  Die Arbeitslosenquote der Personen aus den EU-28 lag im Juni 2016 bei 8,9 Prozent, bei Personen aus Bulgarien und Rumänien lag sie bei 9,3 Prozent und bei Personen aus den EU-8 bei 8,7 Prozent. Ersichtlich besteht hier keine Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und örtlichem Lebensstandard der verschiedenen EU-Staatsangehörigen. Im Mai 2016 bezogen knapp 135.000 Bulgar*innen und Rumän*innen Leistungen nach dem SGB II. Damit betrug die SGB-II-Hilfequote 18,8 Prozent. Sie liegt damit leicht höher als der Durchschnitt der ausländischen Bevölkerung (18,1 %) und ist deutlich höher als die der Personen aus EU-8-Staaten (11,3 %).  Auffallend hoch ist jedoch bei den bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen der Anteil an erwerbstätigen Leistungsbezieher*innen (so genannte “Aufstocker*innen”). So waren im April 2016 rund 41 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aus Bulgarien und Rumänien erwerbstätig, im Vergleich zu 28 Prozent bei den Ausländer*innen insgesamt. Es ist also aufgrund der Tatsache der extrem hohen Aufstocker*innenquote eher so, dass bulgarische und rumänische Staatsangehörige aufgrund anderer Faktoren als dem schlichten Leistungsbezug, nämlich geringe Lohnhöhe im Verhältnis zur Personenanzahl der Bedarfsgemeinschaft, häufiger Leistungen nach dem SGB II beziehen. Der SGB-II-Bezug leitet sich daher eher von der Erwerbstätigkeit bei verhältnismäßig geringer Entlohnung ab.

Zweites Beispiel: “Flüchtlingskatastrophe”:

Bei Betrachtung der Gesamtzuwanderung (Asylsuchende und Zuwanderung per Visum) ergibt sich, dass ohne Migration die steuerfinanzierten Sozialsysteme kaum aufrechtzuerhalten wären.

2012 betrug der Überschuss von gezahlten Steuern gegenüber empfangenen Sozialleistungen bei Ausländer*innen pro Kopf 3.300 EUR (Quelle: Studie des Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, ZEW, “Der Beitrag von Ausländern und künftiger Zuwanderung zum deutschen Staatshaushalt” – veröffentlicht von der Bertelsmann-Stiftung im Jahr 2014). Damit zahlten die ca. 6,6 Mio. Ausländer*innen in Deutschland über 22 Mrd. EUR mehr an Steuern, als sie Transferleistungen erhalten haben.

Das ZEW berechnete, dass die Zuwanderung in Zukunft den deutschen Durchschnittsbürger jährlich um 406 EUR entlasten kann. Zugespitzt könnte man sagen: Die Forderung nach einem Zuwanderungsstopp ist eine Forderung nach einer Steuererhöhung pro Kopf um 400 EUR pro Jahr. Diese Berechnung beruht auf der Annahme, dass 20 % der Menschen niedrig, 50 % mittel und 30 % hoch ausgebildet einwandern. Laut der letzten Kurzanalyse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind die aktuellen Zahlen aus dem Jahr 2015 tatsächlich noch positiver: 18 % der Asylerstantragsteller*innen  2015 besuchten danach als höchste Bildungseinrichtung eine Hochschule, 20 % ein Gymnasium, 32 % eine Mittelschule, 22 % eine Grundschule. 7 % waren ohne Schulbildung.