Veranstaltung mit Katja Kipping "Wer flüchtet schon freiwillig"

Veranstaltung mit Katja Kipping „Wer flüchtet schon freiwillig“

Am gestrigen Donnerstagabend war der große Saal in der Landesgeschäftsstelle fast bis auf den letzten Platz gefüllt, als die BesucherInnen zur Buchvorstellung „Wer flüchtet schon freiwillig?“ unserer Parteivorsitzenden Katja Kipping kamen. Ich hatte Katja eingeladen und moderierte den Abend. Katja las nicht nur Passagen aus ihrem neuen Buch vor, sondern ging auch ausführlich auf viele Fragen der ZuhörerInnen u.a. zu einer menschlichen und solidarischen Flüchtlingspolitik und zur Stärke von Pegida gerade in Dresden ein. Vielen Dank für diese gelungene Veranstaltung, Katja.

Von dem Abend gibt es einen Videomitschnitt, der hier angeschaut werden kann.

 

Mehr zum Buch:

Wer flüchtet schon freiwillig

Kipping_-_Wer_fluechtet_schon_freiwillig_02Katja Kipping, Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss, Frankfurt am Main 2016 – Eine Buchbesprechung von Axel Troost

Viele BürgerInnen und PolitikerInnen in der „Berliner Republik“ sehnen einen Politikwechsel in der Flüchtlingsfrage herbei. Das bürgerliche Lager und auch die Sozial-demokratie waren hin und wieder zu einem solchen abrupten Kurswechsel bereit: Atomausstieg, Ende der Wehrpflicht, Mindestlohn. Vom glatten Nein zum glatten Ja. Also jetzt ein Kurswechsel zu harten Grenzkontrollen und Obergrenzen? Geschadet hat ein solcher Schwenk der CDU/CSU nicht. Auch diesmal würde die Kanzlerin nur der öffentlichen Meinung folgen: Laut Deutschlandtrend sind aktuell 61 Prozent für eine Obergrenze für Flüchtlinge, 57 Prozent befürworten Grenzkontrollen.

Allerdings: Noch kämpft die Führungsspitze der christdemokratischen Partei gegen die rechtspopulistische Welle. Für die Bundeskanzlerin Merkel gilt weiterhin: „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“. Ungewohnt emotional hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel Kritik aus den eigenen Reihen an der großzügigen Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland zurückgewiesen.

Da auch in der Linkspartei die Angriffe auf die Politik z. T. Unterstützung finden – man dürfe Frau Merkel ihre entsprechende Gutmenschen-Tour nicht durchgehen lassen – ist die ausführliche Positionsbestimmung von Katja Kipping zur Flüchtlingsproblematik in einem noch druckfrischen Buch wichtig.

Ihre zentrale These: „Wer für weniger Fluchtursachen ist, muss den ökonomischen Imperialismus sowie die soziale Ungleichheit bekämpfen. Nicht nur mehr, sondern ganz anders – so ließe sich daher das Motto einer wirklich hilfreichen Entwicklungszusammenarbeit auf den Punkt bringen. Wir in Europa tun nicht nur nicht genügend für die Entwicklungshilfe. Immerhin erfüllt Deutschland seit Jahren nicht die Vereinbarung, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Vielmehr tun Politik und Wirtschaft auch noch das Falsche und sind aktiv beteiligt an sozialen Verwerfungen und der Verelendung ganzer Regionen. Das Schändliche und für Afrikas Entwicklung Schädliche, zum Beispiel die Beteiligung an Land- und Fischraub, zu unterlassen könnte schon mal viel bewirken“ .

Katja Kipping deckt in ihrer ausführlichen Argumentation die entscheidende Verantwortung für das globale Anwachsen der Flüchtlinge und Vertriebenen auf. Die Migrationswellen beginnen nicht an Europas Grenzen, sondern dort, wo die Konflikte toben, wo schon Krisenländer und ihre Nachbarn nicht mehr in der Lage sind, die menschlichen Notlagen in den Griff zu bekommen. Sie lenkt ihr Augenmerk besonders auf die Länder Afrikas und verdeutlicht die Fluchtursachen, die ihre Ursachen nicht nur in hausgemachten Konflikten der Region liegen, sondern auch in der Handelspolitik der west-lichen Industriestaaten, insbesondere der EU. Die von Seiten der EU angestrebten Handelsabkommen Economic Partnership Agreements (EPA) mit Afrika tragen wahrlich nicht zur Stärkung einer eigenständigen Wirtschaft bei. Sie verlängern vielmehr die strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse und verschärfen das bestehende Nord-Süd-Gefälle.

„Zusammengefasst geht es in den angestrebten Abkommen in erster Linie darum, jeg-liche bestehenden Schutzzollvereinbarungen abzubauen, um eine vollkommene Liberalisierung der Märkte zu erreichen. So sollen Zölle und Gebühren auf Importe aus der EU abgeschafft werden. Das hat zur Folge, dass Billigprodukte, die in den reichen Ländern hergestellt werden, die regionalen Märkte zum Beispiel in Afrika überschwemmen. Regionale Produzent*innen haben dadurch große Absatzprobleme und sind von der Pleite bedroht.“ /17/

Die EU habe nur noch sechs bis acht Wochen Zeit, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen, heißt es in der etablierten Politik. Wenn der Frühling komme, dürfte die Zahl von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika nach Europa deutlich steigen. Welche irrsinnige Fehlbewertung.

Was man aus Kippings Argumentation dagegen mitnehmen kann: Flüchtlingspolitik findet vorwiegend in der Krisenregion statt. Die wichtigsten Akteure dort sind das System der Vereinten Nationen (insbesondere der UNHCR sowie UNICEF, WHO und FAO. Vereinte Nationen und andere Hilfsorganisationen sind dabei von den Zuwendungen der Geberstaaten bzw. privaten Spendengeldern abhängig, was langfristig angelegte Programme erschwert. Zusätzlich zu den Finanzierungsproblemen erschweren recht-liche, bürokratische und politische Hemmnisse die Arbeit dieser Institutionen.

Die mit zunehmender Zahl der Flüchtlinge und anhaltender Aufenthaltsdauer sich dramatisch verschlechternde Lage in den Flüchtlingslagern des Libanon, Jordaniens aber auch der Türkei zeichnete sich bereits seit einiger Zeit ab. Doch Warnsignale des UNHCR wurden von der internationalen Gemeinschaft weitgehend ignoriert.

Zäune oder Zahlungen an den Grenzen einer „Festung Europas“ werden das Problem der in den nächsten Jahren weiter anwachsenden Migration nicht lösen. Die Perspek-tive muss der Aufbau eines internationalen Regimes sein, das auf die sich ausbreitenden Kriege und Bürgerkriege sowie die Ausweitung von „gescheiterten Staaten“ durch eine koordinierte Aktion von internationalen Hilfsorganisationen und Unterstützung aus wohlhabenden Staaten basiert.

Es grenzt an Heuchelei, wenn die Bundesregierung von CDU/CSU und SPD ihr Engagement in Sachen Bekämpfung der Fluchtursachen herausstellt. Deutschland habe zur Stabilisierung der Krisenregionen seit 2012 mehr als eine Milliarde Euro bereitgestellt. Davon erhalten Flüchtlinge unter anderem Zuschüsse für Nahrungsmittel und Miete, Schulunterricht für Kinder, Berufsbildungskurse oder auch psychosoziale Unterstützung für Gewaltopfer. Diese Mittel für Flüchtlingshilfe und für Fluchtprävention sind viel zu gering. Richtig ist, dass viele Staaten ihre Hilfszusagen an internationale Organisationen nicht erfüllen und das UN-Flüchtlingshilfswerk deshalb seine Essensrationen in Flüchtlingslagern im Irak und im Libanon halbieren oder ganz einstellen musste. Gleichwohl bleiben die Hilfszusagen von der EU und Deutschlands auch weit hinter den Zusagen zurück. Dies ist absurd, wenn man sich die Aufwendungen für Flüchtlinge in Deutschland im Jahr 2015 mit über 18 Mrd. Euro vor Augen hält.

Die PolitikerInnen der etablierten Parteien behaupten: Die diversen Beschränkungen des Asylrechtes sei „ein wichtiger Teil unserer Gesamtstrategie, eine europäische Lösung zu suchen und das, was national notwendig ist, zu machen“. Die Menschen wüssten nun, dass die Große Koalition handlungsfähig sei. Man nehme die Menschen auf, die wirklich verfolgt würden, und gebe den anderen das Signal: „Ihr könnt hier nicht bleiben“.

Die verschiedenen Flüchtlingsorganisationen haben diese politische Strategie von   Union und Sozialdemokratie scharf kritisiert. Die beständige Verschärfung des Asylrechtes sind ganz bittere Entscheidungen: mit der Ausweitung der vermeintlich sicheren Herkunftsländer werde vor allem die Abschiebepraxis erweitert; die Beschränkung beim Familiennachzug ist ein gravierender Eingriff in das Grundrecht auf das Zusammen-leben als Familie; außerdem werde die Rechtsstellung der Asylsuchenden weiter eingeschränkt durch die Verlängerung der Aufenthaltsdauer in den Erstaufnahmestellen und durch die Ausweitung von Sachleistungen sowie die strenge Residenzpflicht. Abgelehnte Asylbewerber, die ausreisen müssen, dieser Pflicht aber nicht fristgerecht nachkommen, bekommen nur noch eingeschränkte Leistungen. Der Gipfel der bürokra-tischen Repression und Kleinkrämerei: Flüchtlinge müssen sich künftig an den Kosten von Sprach- und Integrationskursen mit zehn Euro im Monat beteiligen. Der Betrag wird ihnen von den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz abgezogen.

Die Autorin verweist darauf, dass „die wirtschaftliche und soziale Krise in Europa und die verheerende Austeritätspolitik der EU“ nicht nur die gesellschaftlichen Bedingungen für die Akzeptanz von Geflüchteten verschlechtert und dem Rechtspopulismus in vielen Ländern Auftrieb gegeben haben. „Wer nun allerdings meint, der Rückzug in die nationale Wagenburg oder die Aufkündigung der europäischen Integration seien die passenden Reaktionen darauf, irrt. Denn gerade die Flüchtlingsfrage unterstreicht die Notwendigkeit vertiefter transnationaler Zusammenarbeit. Die viel beschworene nationale Souveränität ist nicht nur keine Entschuldigung für das Missachten von Menschenrechten. Anhand der Flüchtlingsfrage wird auch deutlich, wie illusionär die Vorstellung ist, die großen Menschheitsfragen seien heute noch innerhalb des nationalen Tellerrands zu bearbeiten.“ /162/163/

Kipping vermittelt nicht nur die wesentlichen Hintergründe, sondern hat den Mut zu   einem optimistischen Ausblick. „Der kurze Sommer der Solidarität an deutschen Bahnhöfen hat gezeigt, was passieren kann, wenn das Bewusstsein des Gemeinsamen bei vielen erwacht und Ländergrenzen verdampfen in einem Mitgefühl, das uns alle vereint. Wenn Menschen aus Parteien, Aktivist*innen aus Bewegungen, Kolleg*innen aus Gewerkschaften, Vereinen und Initiativen zusammenkommen, um deutlich zu machen: Europa können wir selbst anders machen: solidarisch, demokratisch, grenzenlos. Ihnen allen ist klar: So, wie es ist, bleibt es nicht. Es gibt keinen Automatismus. Wir können verlieren. Aber das werden wir mit Sicherheit, wenn wir stillhalten. Die Entscheidung lautet: entweder Aufbruch in einen grenzübergreifenden Postkapitalismus oder eine allmähliche Fragmentierung der Gesellschaft hin zur organisierten Barbarei, zur permanenten Krise und zum weltweiten ökologischen Zusammenbruch“./175/

Das Buch ist ein wichtiger und sehr fundierter Beitrag zur gesamten Debatte des Flüchtlingsproblems. Es sei den Zweifler*innen und „Kleingeistigen“ innerhalb und natürlich insbesondere außerhalb der LINKEN zur Lektüre besonders empfohlen.