#LinkeMeToo - Eine Einschätzung

#LinkeMeToo – Eine Einschätzung

Seit mehreren Tagen ist nach den Veröffentlichungen im Spiegel um Fälle sexuellen Missbrauchs in der LINKEN eine Debatte entbrannt. Vor allem auf Twitter wird unter dem Hashtag #LinkeMeToo eine Auseinandersetzung um Deutungen und Wertungen geführt. Ich habe mir diese Debatte jetzt ein paar Tage angeschaut und bin irgendetwas zwischen erschüttert und entsetzt. Ich habe lange überlegt, ob ich etwas dazu schreibe und mich jetzt entschlossen, es zu tun, weil ich der festen Überzeugung bin, dass eine solche Debatte so nicht geführt werden kann und geführt werden darf.

Was stört mich am meisten? Ganz einfach: Es geht viel zu wenig um die Opfer bzw. Betroffenen[1].  Da wird betont, wie wichtig man das Thema findet und wie nötig Aufklärung ist und dass sich was ändern muss. Um im nächsten Moment mitzuteilen: Aber ich stehe zu meiner Parteivorsitzenden. Da wird den Betroffenen und ihren Unterstützer*innen mindestens unterschwellig unterstellt, eine Kampagne gegen die Partei zu fahren – eingedenk der Tatsache, dass sie monate-, wenn nicht gar jahrelang versucht haben, sich innerparteilich Gehör zu verschaffen und dabei immer wieder gegen Wände gelaufen sind. Und auch Vorwürfe, der Partei schaden zu wollen und selbst nur die mediale Aufmerksamkeit zu wollen, fehlen nicht.

Um diejenigen, die unter den Übergriffigkeiten, sexistischen Bemerkungen und Machtmissbrauch, unter Missbrauch oder Vergewaltigung gelitten haben, die Angst haben in Situationen zu geraten, denen sie sich nicht gewachsen fühlen oder die traumatisiert sind, um alle diese Menschen geht es in der Debatte nur seitens der Betroffenen und ihrer Unterstützer*innen. Ihnen schlägt eine Verteidigungsstrategie seitens der Partei entgegen, die abgesprochen scheint: Ja, man nimmt das schon alles ernst, aber das darf jetzt nicht dazu führen, dass Janine in die Öffentlichkeit gezerrt wird, sie war schließlich die betrogene Frau. Und es wäre doch viel besser, das innerparteilich zu klären. Ich fürchte ja, diese Verteidigungsstrategie ist nicht abgesprochen. Vielmehr scheinen mir hier lange eingeübte Reflexe zu wirken: wenn eine uns nahestehende Person aus der Partei angegriffen wird, werden wir sie verteidigen, auf Teufel komm raus und mit Argumenten, die uns halt gerade so einfallen.

Versuchen wir doch mal eine Bewertung ohne Schaum vorm Mund: Die Vorsitzende einer Fraktion hat eine (anfangs heimliche) Beziehung mit einem Mitarbeiter. Das kommt vor und ist erst einmal auch nicht schlimm. Allerdings sollte inzwischen auch allgemein unumstritten sein, dass eine solche Konstellation immer auch problematisch ist, weshalb man das klären sollte, bspw. indem einer der beiden den Job wechselt. Aus meiner Sicht ist diese Konstellation die Grundlage für das, was danach passierte bzw. nicht passierte. Der Mann beginnt eine Affäre mit einer Minderjährigen und steigt ihr auf den Balkon, nachdem sie sich von ihm getrennt hat, sie lässt ihn rein, lässt sich auf Sex ein. Die junge Frau wendet sich danach an dessen Arbeitgeberin und Lebensgefährtin des Mannes und teilt mit, dass sie durchdreht, wenn das noch einmal passiert. In nahezu jeder Firma und in jeder Fraktion hätte das Konsequenzen für den Mann nach sich gezogen. Hier nicht. Es liegt nahe, dass der Grund dafür die persönliche Konstellation als solche ist.

Doch selbst wenn man in Rechnung stellt, dass diese persönliche Konstellation eine angemessene Reaktion erschwert hat: Janine war die Dienstvorgesetzte des Mannes und trägt als Fraktionsvorsitzende Verantwortung . Wenn sie selbst nicht handeln konnte, so wäre doch zumindest zu erwarten, dass sie jemanden beauftragt zu handeln. Weder die Verteidigungsstrategie, sie sei die betrogene Frau – was nebenbei ein extrem schwieriges Narrativ ist, da es die Frau herabsetzt – noch es handele sich um eine Parteiangelegenheit greifen hier. Richtig perfide ist die Argumentation, die junge Frau sei ja schließlich auch danach noch mit dem Mann zusammen gewesen. Wir wissen doch, dass es verschiedene Abhängigkeiten gibt, die Frauen daran hindern sich zu trennen. Ein Hilferuf ist deshalb immer (!) ein Grund zu handeln.

Wenn aber diejenigen, die Verantwortung in einer Fraktion übernommen haben, selbiger nicht gerecht werden, ist das ein Problem. Und natürlich gab es eine Verantwortung gegenüber der jungen Frau, die sich hilfesuchend an Janine gewendet hat. In einer späteren Episode, wo die junge Frau explizit von „deinem Mitarbeiter“ spricht, vor dem sie Angst habe, wir dies noch deutlicher. Insofern ist Janine hier natürlich vorzuwerfen, dass sie ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden ist.

Nun kann man daraus Rücktrittsforderungen ableiten oder auch in Erwartung solcher die Verteidigungsanlagen aufbauen. Viel wichtiger wäre allerdings, deutlich zu machen, dass auf höchster Ebene der Schuss gehört wurde und man sich nun dem Problem annehmen wird und ernsthafte Konsequenzen zieht. Selbst wenn nicht jeder Fall bewiesen werden kann und sich nicht jeder Vorwurf erhärtet, zeigen doch die Massivität der Debatte und die Vielzahl der Berichte, dass das Problem real ist und Handlungsbedarf besteht. Es kann und es darf nicht sein, dass Menschen, die in der Partei zu Opfern psychischer und/oder physischer sexueller Gewalt werden, sich damit allein gelassen fühlen, allein gelassen werden oder gar aktiv bekämpft werden. Ich erwarte vom meiner Parteiführung, dass sie alles dafür tut, dass die Fälle aufgeklärt werden und die notwendigen Konsequenzen gezogen werden, so schmerzhaft sie auch sein mögen.

Das war tatsächlich meine Hoffnung, bis ich vorgestern die Mail des Bundesgeschäftsführers zum Thema bekam. Darin ist die Erklärung von Janine verlinkt die mich offen gestanden sprachlos macht. Null, wirklich null Empathie gegenüber den Opfern, kein Wort des Bedauerns, kein Problembewusstsein, keinerlei Eingeständnis eigener Fehler… Dafür Bestürzung über die Form der  Berichterstattung und die Selbststilisierung als Opfer derselben.

Verlinkt ist außerdem eine zweite Erklärung der Partei. Auch hier fehlt jedes Wort des Bedauerns oder gar der Entschuldigung bei den Opfern. Dafür eine Auflistung, was schon gemacht wurde. Und warme Worte, was man alles in der Partei nicht dulden wird und was keinen Platz hat. Der Kern ist dann dieser Satz, optisch sogar hervorgehoben: „Wir nehmen die Anschuldigungen sehr ernst und arbeiten sie innerparteilich auf.“ Unabhängig davon, dass die Formulierung „Anschuldigungen“ suggeriert, dass es sich nicht um tatsächlich stattgefundene Taten handelt, sondern eben nur um Anschuldigungen, wird von innerparteilicher Aufarbeitung gesprochen. Was damit gemeint ist, bleibt im Dunkeln. Bestenfalls kann man unterstellen, es gibt keinen Plan bisher. Schlimmstenfalls ist es eine Floskel, die Politiker*innen gerne verwenden…

Das Schlimme daran ist: Es signalisiert all jenen, die sich um Aufklärung bemühen und mit ihren Erlebnissen ernst genommen werden wollen, dass es einfach so weitergeht. Sie müssen zwangsläufig den Eindruck bekommen, dass ihr Aufschrei verhallt und es eigentlich nur darum geht, dass die Partei die öffentliche Debatte wegbekommt. Und dass es eben nicht den ernsthaften Willen gibt, aufzuarbeiten und zu verändern, dass eine Kultur des Hinschauens und des Widerspruchs weder gewollt ist noch daran gearbeitet wird.

Deshalb hier mein Vorschlag, wie man die notwendige Aufklärung betreiben und Veränderungen angehen könnte: Es werden drei externe Personen mit entsprechendem fachlichen Hintergrund (bspw. Jurist*in, Berater*in, Psycholog*in) beauftragt, die vorliegenden Fälle zu analysieren, mit den Opfern und den Tätern Gespräche zu führen und einen Bericht zu den Taten, den strukturellen Gegebenheiten die diese befördert haben sowie Handlungsempfehlungen zur Abhilfe vorzulegen. Begleitet könnte das von einer Parteivorsitzenden werden, auch um deutlich zu machen, wie ernst es der Partei damit ist und um der Gruppe die notwendigen Zugänge zu sichern. Rein parteiinterne Aufklärung wird wenig bringen und sofort Bestandteil der innerparteilichen Auseinandersetzungen werden. Und natürlich müssen die Handlungsempfehlungen dann auch umgesetzt werden.

In der Mail des Bundesgeschäftsführers wird im weiteren Text die bereits im Oktober 2021 gegründete Vertrauensgruppe erwähnt. Verbunden mit dem Hinweis, diese sei bereits schon tätig geworden und das Problem sei, dass sie keine Handlungsspielräume habe, weshalb die Satzung geändert werden müsse. Das ignoriert – nebenbei erwähnt – die öffentlichen Warnungen der Betroffenen vor dieser Gruppe, weil es bisher keine positiven Erfahrungen damit gäbe und Hilfe ausgeblieben sei.

Der dann folgende Part im Brief, dass man sich, wenn man Fälle kennt, an diese Vertrauensgruppe wenden solle, offenbart jedoch das ganze Dilemma der Partei bei den Themen sexueller Missbrauch, Übergriffe und Diskriminierungen erneut: Es fehlt jegliche Opfersensibilität. Deshalb möchte ich dem Thema Vertrauensgruppe noch etwas mehr Aufmerksamkeit widmen:

  1. Von der Vertrauensgruppe ist nicht bekannt und wird auch in der Mail nicht kommuniziert, wer dieser eigentlich angehört. Wenn also eine Person innerhalb der Partei Opfer eines Übergriffs wird, soll sie sich nach dem Willen des Parteivorstands an eine anonyme Struktur wenden, von der sie nichts anderes kennt als die Sammel-E-Mail-Adresse. Ich könnte das jetzt kurz abhandeln mit dem Satz: Wird nicht funktionieren, weil macht niemand.
    Es zeigt aber auf, dass anscheinend niemand sich auch nur mal ganz kurz in die Opfer hineinversetzt hat. Wenn jemand Opfer eines Übergriffs wird, ist sein Vertrauen in andere Personen und die Institution, innerhalb derer dieser Übergriff stattgefunden hat, zutiefst erschüttert. Das Opfer wird sich also nur (wenn überhaupt) an Personen wenden, denen es vertraut. Einer Sammel-E-Mail-Adresse wird es in dieser Situation ganz sicher nicht vertrauen. Zumal es nicht weiß, wer die Mail alles bekommt und liest.
    Die eigentlich gut gemeinte Vertrauensgruppe verkehrt sich so in ihr Gegenteil: Sie macht dem Opfer klar, wir tun zwar so, als wollten wir dir helfen, wir bieten dir aber nur ein Instrument an, das du in deiner Situation eh nicht nutzen wirst. Nach außen ist die Partei sauber, das Opfer wird aber nicht ernst genommen und geholfen wird ihm auch nicht.
  2. Noch schlimmer empfinde ich allerdings den Hinweis, wer Fälle kenne, solle diese an die Vertrauensgruppen-Mailadresse schicken. Ernsthaft jetzt? Wurde der Hinweis, dass man das natürlich NUR in Absprache mit den Betroffenen tun sollte, einfach vergessen oder ist es wirklich so gemeint, wie es da steht: „Wenn ihr Fälle kennt, könnt ihr diese parteiinterne Struktur nutzen um eine Erstkontakt zur Hilfe herzustellen.“  Das heißt im Klartext, wir wollen alle Fälle in der Partei erfahren, scheißegal, ob die Betroffenen das auch wollen. Auch das ist aus Opfersicht absolut inakzeptabel.

Wenn man eine solche Vertrauensgruppe möchte, was ich begrüße, dann bitte in erster Linie unter Beachtung der Bedürfnisse der Opfer, nicht der Partei. Eine solche Gruppe sollte

  1. aus fünf bis sieben Persönlichkeiten bestehen, die nicht Bestandteil der aktuellen innerparteilichen Auseinandersetzungen sind (also möglichst keine herausragende Funktion auf Bundes- und Landesebene haben),
  2. aus verschiedenen Landesverbänden stammen,
  3. divers zusammengesetzt sein (also auch Personen unterschiedlichen Geschlechts, mit queerem Hintergrund und/oder trans Perspektive oder auch mit besonderem Blick für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen),

Bei der Arbeitsweise der Gruppe muss sichergestellt sein, dass:

  1. die Mitglieder der Vertrauensgruppe bekannt sind und auf unterschiedlichen Wegen einzeln kontaktiert werden können,
  2. die Mitglieder einzeln tätig werden können, also keine Rechenschaftsplicht gegenüber den anderen Mitgliedern der Gruppe besteht, wenn das Opfer dies nicht möchte,
  3. keine Rechenschaftspflicht gegenüber Parteigremien besteht,
  4. die Mitglieder jedoch Zugang zu den Parteigremien haben, wenn sie es in Absprache mit den Betroffenen für notwendig erachten,
  5. die Mitglieder über einen Rechtsberatungsfonds verfügen können, aus dem durch ein einzelnes Mitglied bzw. im Vier-Augen-Prinzip Geld entnommen werden kann.

Wichtig ist, dass die Gruppe nicht der verlängerte Arm des Parteivorstands ist, sondern ausdrücklich für die Unterstützung der Opfer und Betroffenen da ist und deren Perspektive zu vertreten hat.

Ähnliche Strukturen braucht es in allen Landesverbänden. Dafür muss man nicht die Satzung ändern, dafür muss man vor allem den Willen haben, schnell wirksame Strukturen aufzubauen.

Diese Vertrauensgruppe muss zwingend ergänzt werden durch ein externes Angebot. Da hilft es wenig, in einer Mail zusammengegoogelte Beratungsangebote aufzuführen. Das kriegen die Betroffenen auch alleine hin. Wenn man es aber ernst meint, mit einem externen Angebot, dann ist die Kooperation mit einer erfahrenen Beratungsstelle zu suchen und mit dieser gemeinsam ein Angebot zu erarbeiten. Dafür muss man dann als Partei ggf. auch Geld in die Hand nehmen. Wichtig ist aber, dass die Betroffenen die Möglichkeit einer unabhängigen Beratung haben, die allein ihr Wohl im Blick hat. Wenn das Opfer sich gemeinsam mit der Beratungsstelle entscheidet, die Taten innerparteilich zu thematisieren, sollte die Beratungsstelle aber gleichzeitig die entsprechenden Ansprechpartner, Gremien und Wege in der Partei kennen. Deshalb wäre eine solche Kooperation aus meiner Sicht anzustreben.

Das sind meine Vorschläge, für einen angemessenen Umgang mit der bekannt gewordenen Situation: Eingeständnis von Fehlern, deutliche Änderung der öffentlichen Kommunikation, Arbeiten an einer Kultur des Hinschauens und des Widerspruchs, externe Aufarbeitung, eine opferorientierte Struktur für Betroffene und vor allem Opfersensibilität.


[1] Ich möchte mich hier nicht in die Diskussion begeben, welches der beiden Worte verwendet werden sollte. Beide haben in dieser Debatte Vor- und Nachteile – „Opfer“ kann zu sehr die Schwäche der Geschädigten betonen, „Betroffene“ kann verharmlosend wirken. Ich verwende beide Worte je nach Kontext, in dem Wissen, dass beide auf ihre Art problematisch sind.