Ein Stolperstein in Dallgow-Döberitz? – Zusammenfassung einer Debatte

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, für das dieser im Oktober 2005 das Bundesverdienstkreuz bekam. Mit den 10 cm x 10 cm großen Steinen soll Menschen, die dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer fielen, dort gedacht werden, wo sie ihren letzten (freiwilligen) Wohnsitz hatten. Das Projekt verfolgt das Ziel, den jüdischen und anderen Opfern des Nationalsozalismus das wiederzugeben, was sie verloren haben: ihren Namen. Es versucht, die heute lebenden Menschen in deren Alltag darüber „stolpern“ zu lassen, dass es hier früher jüdisches Leben gegeben hat, dass hier Menschen gelebt haben, denen der Nationalsozialismus alles genommen hat, erst die Freiheit, dann den Namen und zuletzt das Leben.

Damit verbindet sich mit dem Projekt eine völlig neue Erinnerungskultur. Nicht an einem anonymen Ort sondern dort, wo der Alltag der Opfer stattfand, nicht mit großen Erinnerungstafeln sondern mit kleinen, unscheinbaren Steinen soll versucht werden, Menschen, die einen Stein entdecken, für einen Moment inne halten zu lassen. Es geht vom abstrakten namenlosen Gedenken über zu konkreten Schicksalen.

16000 Stolpersteine wurden bereits in etwa 300 Städten und Gemeinden in Deutschland, Österreich, Ungarn, den Niederlanden und Tschechien verlegt.

Nur sehr wenige Kommunen lehnten die Verlegung von Stolpersteinen ab. München und Simbach am Inn sind Beispiele dafür, in einigen Kommunen dürfen die Steine nur verlegt werden, wenn die Hauseigentümer zustimmen.

Kritik an den Stolpersteinen kommt von einem kleinen Teil der jüdischen Gemeinde, allen voran Charlotte Knobloch. Ihr Hauptargument ist, dass sie nicht möchten, dass die Namen der Opfer mit Füßen getreten werden. Viele andere Mitglieder der jüdischen Gemeinde,  unter anderem Dr. Salomon Korn vom Zentralrat der Juden in Deutschland, unterstützen jedoch aktiv das Setzen von Stolpersteinen.

Nach diesen Vorberbemerkungen nun zur Debatte in Dallgow-Döberitz:
Am 28. März 2008 berichtete die Märkische Allgemeine Zeitung das erste Mal über das Projekt Stolpersteine in Dallgow-Döberitz. (zum Artikel) Hier wurde vor allem über die aufwändigen Recherchearbeiten des vom Bürgermeister der Gemeinde, Jürgen Hemberger, angeregten Projektes berichtet.

Nach diesem Artikel passierte öffentlich lange nichts. Die Stolperstein-Gruppe recherchierte unter anderem mit Unterstützung des Ortsvorsitzenden der CDU, Jürg Vahl, und keiner äußerte Bedenken.

Doch kurz nach den Kommunalwahlen begann das Grummeln. Vorher war bekannt geworden, dass zwei Steine für das jüdische Ehepaar Herta und Richard Katz in der Nauener Straße verlegt werden sollen. Sie wurden am 18. Mai 1943 im Alter von 61 bzw. 72 Jahren nach Theresienstadt deportiert. Richard Katz starb dort am 2.5.1944, Herta Katz wurde am 12.10.1944 in Auschwitz ermordet.

Das Ehepaar Weber, vor dessen Grundstück die Stolpersteine für das Ehepaar Katz in der Neuener Straße verlegt werden sollen, meldete sich am 8. Oktober in der Märkischen Allgemeinen Zeitung zu Wort. (zum Artikel) Auch sie bedienen sich des Arguments von Charlotte Knobloch, dass die Namen der Opfer mit Füßen getreten werden. Von Pro-Argumenten hört man bei den Webers leider nichts und auch nichts von den Unterstützern der Stolpersteine in der jüdischen Gemeinde.
Ein weiteres Argument der Webers ist, dass sie nicht mit nationalsozialistischen Verbrechen in Verbindung gebracht werden wollen und es als Anklage empfinden würden, wenn ein solcher Stolperstein vor ihrem Grundstück platziert würde. Ohne Zweifel kann man dieses Argument grundsätzlich verstehen. Nur leben wir im Jahr 2008 und niemand wird auf die Idee kommen, die jetzigen Hausbesitzer heute noch mit der Judenverfolgung in Verbindung zu bringen.

Das Ehepaar Weber wünscht sich eine „Tafel am Bahnhof, an der Feuerwehr oder einem anderen öffentlichen Platz“ für das Gedenken an die Opfer. Allein die Beliebigkeit dieser Aufzählung macht das Problem deutlich: Es soll ein Ort gefunden werden, wo das Gedenken niemanden stört. Bloß nicht vor unserer Tür, am besten schön weit weg… Eine Tafel an irgendeinem öffentlichen Ort verhindert genau eines, sie verhindert das Gedenken im Alltag. Die Stolpersteine sind eine andere Erinnerungskultur, sie wollen an all den Stellen, wo das Leben von Opfern des Nationalsozialismus stattfand, an eben diese erinnern. Eine Tafel irgendwo im öffentlichen Raum ist da nur ein sehr billiger Ersatz.

In dem Artikel wird ebenfalls mitgeteilt, dass sich der Voritzende der CDU, Jög Vahl, inzwischen von der Stolperstein-Initiative getrennt hat. Das ist grundsätzlich sicher nichts ungewöhnliches, die zeitliche Nähe zum Protest der Webers – Herr Weber ist Schatzmeister der örtlichen CDU – legt aber die Vermutung nahe, dass der CDU-Vorsitzende sich dem Druck seiner Parteifreunde beugt und diesem wichtigen Gedenkprojekt deshalb den Rücken kehrt. Zwar begründet er seinen Rückzug mit dem Argument, dass auch prominente Juden das Projekt ablehnen, er verschweigt aber, ebenso wie die Webers, dass es innerhalb der jüdischen Gemeinde auch sehr viele – prominente – Befürworter gibt.

Auf diesen Artikel folgte wenige Tage später ein Leserbrief von Hans-Ulrich Rhinow aus Falkensee (Mitglied der Stolperstein-Initiative). Dieser ist online leider nicht verfügbar, wir zitieren hier deshalb etwas ausführlicher
„Stolpersteine sollen erinnern an Menschen, die ohne persönliche Schuld, ohne Gerichtsurteil allein aus rassistischen, politischen oder ideologischen Gründen ermordet wurden. Dieses Erinnern an die brutalen Verbrechen der Nationalsozialisten mahnend wachzuhalten, ist eine hohe moralische Aufgabe. Dagegen steht die Befürchtung einzelner Bürger, aus anonymer Versenkung herausgeholt zu werden, in keinem gleichwertigen Verhältnis. Wer heute noch so wenig Anteil nimmt an dem grauenvollen Schicksal anderer und dabei sich vordergründig ausschließlich an den eigenen Bedürfnissen orientiert, zeigt keine beschützenswerte Moral.
Dies sollten auch die Gemeindevertreter in Dallgow bedenken, zumal ihr Ort zu den deutschen Gemeinden zählt, die sehr frühzeitig in der Nazizeit noch vor der Veröffentlichung der „Rassengesetze“ begonnen haben, jüdische Mitbürger zu verunglimpfen.“

Am 11. Oktober meldet die Märkische Allgemeine Zeitung, dass die Initiativgruppe für die Stolpersteine das Setzen der Steine am 15. November 2008 aufgrund der öffentlichen Debatte ausgesetzt hat und die Ergebnisse der Debatte abwarten will. Die Verlegung fünf weiterer Steine in Falkensee am selben Tag findet jedoch statt. (zum Artikel)

Am 14. Oktober meldet sich DIE LINKE in Dallgow-Döberitz in der Märkischen Allgemeinen Zeitung zu Wort. (zum Artikel) DIE LINKE hat einige Tage vorher auf ihrer Mitgliederversammlung den einstimmigen Beschluss gefasst, das Setzen der Stolpersteine in Dallgow-Döberitz zu unterstützen und dafür zu kämpfen. (zur Presseerklärung) In dem Artikel wird zudem der CDU-Vorsitzende Vahl ob seines „Schlingerkurses“ angegriffen. Herr Vahl betont, dass sein Einlenken nichts mit der CDU-Mitgliedschaft der Webers zu tun hat – nun, wer würde das an seiner Stelle nicht behaupten? Und er verweist darauf, dass es andere Formen des Gedenkens gäbe, die besser geeignet wären. Wir sind gespannt, welche Vorschläge Herr Vahl machen wird und hoffe, dass es sich um mehr als eine Gedenktafel „irgendwo“ in Dallgow-Döberitz handelt.
Im Artikel wird weiterhin mitgeteilt, dass bisher weder die Freien Wähler noch die SPD einen Standpunkt dazu haben. Es verwundert schon, dass der Bürgermeisterder Gemeinde, Jürgen Hemberger, auf dessen Initiative das Stolperstein-Projekt erst ins Leben gerufen wurde, das Thema nun als „heikel“ bezeichnet.
Und eine weitere Erkenntnis verdanken wir dem Artikel: Das Thema Stolpersteine wird auf der konstituierenden Gemeindevertretersitzung am 28. Oktober nicht auf der Tagesordnung stehen, so dass damit zu rechnen ist, dass die erste Möglichkeit der Gemeindevertreter, sich mit dem Thema auf einer Sitzung zu befassen, Mitte November sein wird.

Am 15. Oktober die vorerst letzten Worte in der Debatte: Zwei Leserbriefe in der Märkischen Allgemeinen Zeitung.
Im ersten Leserbrief bekennt sich die Grüne Gemeindevertreterin Petra Budke eindeutig zum Projekt Stolpersteine und bittet das Ehepaar Weber ihre Haltung zu überdenken.
Der zweite Leserbrief stammt von Otto Pötzsch. Er setzt sich vor allem mit dem o.g. Leserbrief von Herrn Rhinow auseinander und fordert von eben diesem eine Entschuldigung bei Frau Weber. Er trägt einmal mehr das persönliche Schicksal von Frau Weber, deren Vater 1947 verhaftet und in Gefangenschaft umgekommen ist, in die Debatte hinein. Dies kann man wohl getrost als Versuch bewerten, einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen, der nichts mit der eigentlichen Debatte um die Stolpersteine zu tun hat. (Bei den Befürwortern der Stolpersteine ist derzeit zu beobachten, dass sie versuchen die Debatte von den persönlichen Dingen der Familie Weber wegzubekommen, wohl einerseits um sie vor Beschädigungen zu schützen, andererseits aber auch um die Debatte zu versachlichen. An beidem scheinen die Gegner inkl. der Familie Weber aber kein Interesse zu haben.)

Am 23. Oktober versendeten die LINKEN Gemeindevertreterinnen Dagmar Schubert und Andrea Johlige einen Offenen Brief an alle Gemeindevertreter, in dem sie eine „durch bürgerschaftliches Engagement getragene Erinnerungskultur“ in der Gemeinde Dallgow-Döberitz fordern. Zum Offenen Brief gelangen Sie hier.

Am 15. November 2008 wurden in Falkensee fünf Stolpersteine gesetzt. (Artikel in der MAZ)  An diesem Tag, an dem der Initiator der Aktion Günter Demnis extra abreiste, hätten auch die Steine in Dallgow-Döberitz gesetzt werden sollen. Dass es dazu nicht kam, bedaure ich persönlich sehr und die große Anteilnahme in Falkensee bestärkte uns als Fraktion DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen in der Gemeindevertretung in der Auffassung, dass wir weiter für Stolpersteine in Dallgow-Döberitz kämpfen sollten.

Dazu hatten wir wenige Tage später, am 19. November 2008, auch gleich Gelegenheit. Der Bürgermeister Jürgen Hemberger hatte zu einem Gespräch der VertreterInnen der Parteien in der Gemeindevertretung geladen. Hinter verschlossenen Türen sollte eine Lösung gefunden werden. Befremdet hat uns, dass zwar Familie Weber eingeladen war, die Stolperstein-Initiative aber nicht teilnehmen sollte. Warum der Bürgermeister dies so entschieden hat, blieb auch auf Nachfrage offen. Für uns war deshalb schon vor der Veranstaltung klar, dass Zielstellung sein würde, die bisherigen Befürworter der Stolpersteine zum Einlenken zu bewegen. Neben der fehlenden Einladung der Stolperstein-Initiative war unser zweiter Kritikpunkt die fehlende Öffentlichkeit, weil wir sehr wohl der Meinung sind, dass es zu diesem Thema eine öffentliche Debatte braucht und nicht hinter verschlossenen Türen beredet werden sollte.

Die Vertreterinnen unserer Fraktion, Andrea Johlige (DIE LINKE) und Petra Budke (Bündnis 90/Die Grünen) machten denn auch auf der Veranstaltung deutlich, dass wir weiterhin an den Stolpersteinen als Ausdruck einer durch bürgerschaftliches Engagement getragenen Gedenkkultur festhalten werden. Den Vorschlag der CDU, statt der Stolpersteine Straßenschilder in der Nauener Straße aufzustellen, lehnen wir ab, weil wir dies weder für eine würdige Form des Gedenkens halten noch damit den Opfern an der Stelle, also an dem Haus in dem sie lebten, ihre Identität zurückgegeben wird.

Weitere Informationen zu dieser Veranstaltung finden Sie im MAZ-Artikel.

In der Sitzung der Gemeidnevertretung am 26. November 2008 wird ein Antrag der FWG behandelt, der zum Gegenstand hat, die Geschichte von Dallgow-Döberitz im Rahmen eines Universitäts-Projektes aufarbeiten zu lassen. Wir als Fraktion finden den Antrag in Ordnung, werden uns aber dagegen wehren, wenn dies zum Ziel haben sollte, die Debatte zum Gedenken in Dallgow-Döberitz dadurch aufzuschieben oder zu beenden. Es ist immer gut, mehr über die Geschichte eines Ortes zu erfahren. Mit der Frage, ob in Dallgow-Döberitz nun aber endlich der Familie Katz durch einen Stolperstein gedacht werden kann, hat dies aber nichts zu tun.

Die Fraktion DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen wird sich weiter an der aus unserer Sicht notwenigen öffentlichen Debatte zur Gedenkkultur beteiligen. Voraussichtlich im Februar 2009 werden wir den Antrag, die Stolpersteine für die Familie Katz vor ihrem ehemaligen Wohnsitz zu setzen, in die Gemeindevertretung einbringen. Wir hoffen, dass sich die Gemeinde dann in die Reihe der über 300 orte stellt, in denen bereits Stolpersteine gesetzt wurden.