Bildungsreise europäisches Grenzregime, Tag 2: Diverse Gespräche

Bildungsreise europäisches Grenzregime, Tag 2: Diverse Gespräche

Vom 29.9. bis 4.10.2015 bin ich auf Bildungsreise zum EU-Grenzregime in Tunis und Palermo. Gestern geb es bereits einen Bericht, hier nun gibt es eine erste Einschätzung der Gespräche, die am zweiten Tag der Reise stattgefunden haben. Ein Teil der Gespräche war zumindest zu einem gewissen Teil vertraulich gehalten, so dass hier auch nicht alles zur Sprache kommen kann, was in den Gesprächen eine Rolle gespielt hat.

Vorab: Der Tag war irre voll gepackt. Von 8.30 Uhr bis nach 22 Uhr jagte ein Termin den nächsten. Und so ist es auch schon sehr spät, einen Blogbeitrag dazu zu schreiben. Da auch die nächsten Tage von morgens bis abends Programm haben und demnach nicht zu erwarten ist, dass mehr Zeit blebt, zu berichten, will ich heute zumindest noch eine Kurzzusammenfassung der einzelnen Termine aufschreiben.

Der Tag begann mit einem Gespräch beim UNHCR mit Herrn Nabil Benbekhti. Das UNHCR kümmert sich um Flüchtlinge in Tunesien, die durch diese Organisation auch eine Anerkenung als Flüchtling erhalten können. Mangels Gesetzgebung in Tunesien ist dies jedoch kein offizieller Status, wobei es ein Agreement mit dem tunesischen Staat gibt, dass die duch das UNHCR anerkannten Flüchtlinge keine Verfolgung zu befürchten haben. Flüchtlinge in Tunesien haben Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und die Kinder können eine Schule besuchen. Allerdings gibt es bei illegal Eingereisten keine Arbeitserlaubnis und auch keine klaren Regelungen zur Aufenthaltserlaubnis. In Tunesien wurden in er Vergangenheit ca. 1 Million Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen, die mittlerweile gut integriert sind. In der aktuellen Situation sorgt jedoch vor allem die fehlende Asylgesetzgebung für Probleme.

Der zweite Termin des Tages führte uns zum Staatsministe für Migration und soziale Integration, Herrn Belgacem Sabri. Er erklärte uns, dass die Migrationpolitik von Tunesien folgenden Linien folge:

  • Verteidigen des Rechts aller auf gleiche Behandlung und sozialen Schutz
  • Arbeit an Reform für einen Grundstein sozialer Sicherheit und gegen Armut
  • Integration von Flüchtlingen durch lokale und nationale Projekte

Er erläuterte, dass es verschiedene Fluchtgründe gäbe, die kurz zusammengefasst festzumachen sind an folgenden Bereichen:

  • Mangelnde Lebensperspektiven
  • Ungleiche Verteilung der Ressourcen
  • Politische Gründe
  • Ethnische Gründe

Im Endeffekt suchten Flüchtlinge Schutz und Sicherheit. Nur ein kleiner Teil wolle tatsächlich in Tunesien bleiben. Aktuell plane die Regierung eine Modernisierung bzw. Einführung eines Einwanderungsrechts, das vor allem den Status von Flüchtlingen in Tunesien klärt. Es fehlt bisher gesetzliche Grundlage für Aufnahme und Umgang mit Flüchtlingen, die nun geschaffen werden soll. Der Entwurf wird in wenigen Wochen vorgelegt, Zielstellung ist die gleiche Behandlung von MigrantInnen und TunesierInnen. Außerdem plant die Regierung ein Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels, das kurz vor der Verabschiedung steht.

Herr Sabri machte deutlich, dass aktuell eine wirtschaftlich und sozial schwierige Situation für Tunesien herrsche. Die Revolution habe zwar ermöglicht, sich von der Diktatur zu befreien, gleichzeitig sei dadurch soziale Ungleichheit und hohe Arbeitslosigkeit zu Tage getreten. Vor allem bei den Hochschulabsolventen herrsche eine hohe Arbeitslosigkeit, die Regierung strebe jedoch eine solidarische und sozial gerechte Wirtschaft an und fördere deshalb vor allem kleine Kooerativen und Betriebe.

Vo der deutschen Politik wünscht er sich vor allem ein Programm zur Arbeitsmigration. Gleichzeitig machte er deutlich, dass illegale Ausreise aus Tunesien für Tunesier eine Straftat sei, die mit Gefängnis geahndet würde. Es wurde deutlich, dass die tunesische Regierung hier gegenüber den eigenen Staatsangehörigen eine sehr rigide Politik fährt.

Der nächste Termin führte uns zur Europäischen Kommission in Tunesien. Mal unabhängig davon, dass die Sicherheitsvorkehrungen fast ansrengender waren als am Flughafen, war dies auch ansonsten einer der härtesten Termine des Tages. Im Gespräch mit Frau Kati Leinonen und Frau Ilaria Mussetti wurde deutlich, dass die mit Tunesien vereinbarte „Mobilitätspartnerschaft“ der EU vor allem ein Ziel verfolgt: Menschen davon abzuhalten nach Europa zu kommen bzw. sie aus Europa wieder zurück in den „Transitstaat“ Tunesien zu bringen. Die „Partnerschaft“ baut auf vier Säulen:

  • Legale Mobilität und Migration
  • Kampf gegen illegale Migration und Menschenhandel
  • Migration und Entwicklung und
  • Asyl und internationaler Schutz

Dazu gibt es dann verschiedene Programme, bspw. Stärkung der tunesischen Behörden bei Arbeitsmigrationsmanagement, Rückkehrerunterstützung oder auch das Programm SALEMM, das unbegleitete minderjährige Flüchtlinge anhalten soll, nicht in die EU einzureisen bzw. schnell wieder in das Herkunftsland zurückzukehren. Von der tunesischen Regierung erwarte die Europäische Kommission folgendes:

  • Einwanderungsgesetz und Asylrecht einführen
  • Koordination zwischen den Ministerien verbessern und Ansprechpartner für Externe
  • Rechtsrahmen für Migranten erneuern
  • Formulierung einer nationalen Politik für Migration

Als klares Ziel der Europäischen Kommission formulierten die Gesprächspartnerinnen folgendes: Ziel der EK ist eine Vereinbarung mit Tunesien, dass Flüchtlinge, die über Tunesien nach Europa eingereist sind, nach Tunesien zurückgeführt werden können. Das wäre eine Ausweitung des Dublin-Systems auf nichteuropäisches Territorium. Ich war offengestanden überrascht, dass dies so deutlich ausgesprochen wird.

Der vierte Termin des Tages führte uns zur Internationalen Organisation für Migration (IOM), zur Leiterin des Büros in Tunis, Frau Lorena Lando. Die IOM hat 158 Mitgliedsstaaten und unterhält 450 Büros weltweit, darunter in in Tunesien 4 Büros mit 50 MitarbeiterInnen. Sie hat sich der Arbeit mit den MigrantInnen verschrieben, aber auch der Zusammenarbeit mit den Aufnahme-, den Transit- und den Heimatländern. Vom Selbstverständnis her ist sie keine NGO, sondern arbeitet im Auftrag ihrer Mitgliedsstaaten. Bei diesem Gespräch konnten wir neben der Situation in Tunesien auch die aktuelle Lage in Libyen intensiv diskutieren. Klar wurde, dass vor allem das Versagen staatlicher Institutionen in Libyen aktuell den Unterschied ausmacht zu Tunesien. Es fehlt in Libyen an klaren Verantwortlichkeiten, was damit zu tun hat, dass es aktuell zwei Regierungen (wovon eine international anerkannt ist) und diverse Milizen gibt. Es ist davon auszugehen, dass zumindest die Milizen, ggf. aber auch die Regierungen an der illegalen Migration kräftig mitverdienen.

Wir diskutierten neben diesen Fragen die aktuelle Situation im Mittelmeerraum vor allem hinsichtlich der Bottsflüchtlinge und der Seenotrettung. Wir waren uns einig, dass es endlich legale Migrationswege braucht, um das tausendfache Sterben im Mittelmeer zu beenden.

Das war allerdings noch nicht der letzte Termin. Der Tag endete mit einem Blick auf den (noch nicht fertig gestellten) Film ‚Europe’s Borderlands‘ und einem Hintergrundgespräch mit dem Filmemacher Jakob Preuss.
Im Gegensatz zu politischen Debatten geht es beim Film nicht primär um Argumentation für das eine oder andere Konzept. Er macht eindrücklich klar, was das technokratische Herangehen, das selbsterklärte Nichtzuständigsein, die Abschottung Europas für die Menschen ganz konkret, ganz real bedeuten: Verzweiflung, Elend und die Bereitschaft den Tod in Kauf zu nehmen. Die gesehenen Ausschnitte und die anschließende Diskussion mit dem Filmemacher haben mich schwer beeindruckt. Sowie der Film fertig ist, werde ich versuchen, eine Veranstaltung mit Jakob Preuss zu organisieren, bei der dieser Film gezeigt wird. Bilder und Videos sagen mehr als tausend Worte!

So war dies ein unfassbar anstrengender Tag mit ganz vielen Erkenntnissen und Denksportaufgaben. Morgen geht es weiter mit  Treffen mit Menschenrechtsorganisationen und einem Gespräch mit Müttern verschwundener MigrantInnen. Und abends begeben wir uns dann auf die Fähre nach Palermo. Ich weiß nicht, ob ich dort Netzzugag habe, insofern kan es sein, ass der Bericht vom morgigen Tag nicht ganz pünktlich erscheint.