Das Vorleben des Falles „Piatto“

Das Vorleben des Falles „Piatto“

Dieser Artikel ist im Blog der Linksfraktion im Brandenburger Landtag als Hintergrundtext zu aktuellen Thesen, die in der Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss Brandenburg entstanden sind, erschienen. Die Texte sind gemeinsam von den Referenten und den Abgeordneten der LINKEN im Ausschuss erarbeitet und sollen natürlich hier nicht vorenthalten werden.

 

In der bisherigen „NSU“-Aufklärung ist der Fall „Piatto“ das wohl schillerndste Beispiel der zwielichtigen Arbeitsweise der Quellenführung. Um nur Informationen über politische Straftäter und „Gefährder“ zu gelangen, „organisieren“ staatliche Behörden selbst Rechtsbrüche. Sie täuschen systematisch die Justiz und andere Behörden. Zuletzt ist die Quelle selbst nur Objekt staatlichen Handelns, ein unangenehmes „Mittel“ dessen sich die Damen und Herren der Beamtenschaft „bedient“ haben – „Hinterher wäscht man sich lieber zweimal die Hände.“ (Referats-Leiter Andreas Lorsch, VS Brandenburg in der 23. Sitzung am 23. März 2018)

Wie wird ein Neonazi zum staatlichen Spitzel? Ab wann und für wen war Carsten Szczepanski überhaupt als Informant tätig?

Bislang weitestgehend unerforscht ist die Frühphase von Szczepanskis politischem Wirken in der Berlin-Brandenburger Neonaziszene und die merkwürdige Untätigkeit der Justiz gegenüber seinen in dieser Zeit begangenen Straftaten. In unserer Vernehmung des Nebenklage-Anwalts Christoph Kliesing am 11. Januar 2018 wurde deutlich, dass hier Fragen offen sind.

Szczepanski wird 1970 in ein sozialdemokratisch geprägtes Elternhaus geboren. Er wächst in Berlin-Neukölln auf und verbringt ab Mitte der 1980er Jahre viel Zeit mit Hertha-Hooligans der Gruppe „Zyklon B“ um den Neonazi Andreas „Oswald“ Pohl, bei dem er laut Dirk Laabs auch eine Zeit lang wohnt (Heimatschutz, S.32).

Er beginnt eine Ausbildung bei der Bundespost und zieht 1989 in eine Wohnung im Prenzlauer Berg, die ihm die Eltern besorgt haben. Zeitgleich radikalisiert er sich jedoch. Er knüpft Kontakte zu „führenden militanten Rassisten in England und den USA“ (Laabs, Generation Hoyerswerda, S.184). Es gelingt ihm, mit Hilfe von Dennis Mahon, einen Berliner Ableger des berüchtigten Ku-Klux-Klan (KKK) zu gründen und das dazugehörende Fanzine „Das Feuerkreuz“ herauszugeben.

Als am 8. Dezember 1991 Ermittler des LKA Berlin in Szczepanskis Wohnung eindringen, finden sie Material für vier Rohrbomben, Zünder und den als Sprengstoff verwendbaren Kunstdünger Nitromethan, außerdem reichlich Propagandamaterial, Klan-Ausweise und Ausgaben seiner Fanzines. Szczepanski flüchtet nach Brandenburg, genauer nach Königs Wusterhausen.

Anfang 1992 übergeben die Berliner und die Potsdamer Staatsanwaltschaft den Fall der Bundesanwaltschaft, die ein Verfahren nach §129a StGB einleitet – Bildung einer Terroristischen Vereinigung.

Angeblich will Generalbundesanwalt Beese zunächst „in Ruhe“ gegen den KKK ermitteln, jedoch – so berichtet es uns der Zeuge Kliesing – soll er vom Brandenburger Verfassungsschutz alsbald zu einer Wohnungsdurchsuchung bei Erik Otto in Königs Wusterhausen, in der Szczepanski untergetaucht sein soll, gedrängt worden sein.

Kliesing berichtete uns, dass der damalige Leiter des Brandenburger Verfassungsschutz, Wolfgang Pfaff, nach Hinweisen vom LKA Brandenburg und dem Staatsschutz Berlin persönlich bei der Bundesanwaltschaft insistiert haben soll, Otto habe Waffen gehortet, darunter eine Panzerfaust, auch sei er persönlich mit Leuten bekannt, die Überfälle planen würden – dies gehe aus mindestens zwei Vermerken der Handakte der Bundesanwaltschaft hervor.

Weil sich der Generalbundesanwalt jedoch bis heute weigert, diese Akte an unseren Untersuchungsausschuss herauszugeben, konnten wir diese Angaben bislang nicht überprüfen. Kliesings eigene Zusage, uns Einblick in die von ihm in öffentlicher Sitzung vorgelesenen Fundstellen zu geben, hat dieser mittlerweile aus unbekannten Gründen zurückgezogen.

Wir wissen jedoch, dass das BKA unter dem Label „Dienstlich wurde bekannt“ am  22. Februar 1992 eine Durchsuchung in Königs Wusterhausen durchführt und Szczepanski festnimmt. Dieser wird drei Tage vernommen und sagt umfassend – ohne anwaltliche Unterstützung – aus. Er benennt die Mitglieder „seines“ KKK und übergibt Listen der Abonnenten seiner Fanzines.

Nach Information des SPIEGEL bietet er den Ermittlern sogar seine Unterstützung an: „Ich werde mich in der nächsten Zeit auf den Weg machen, um in der Skin-Szene nach dem Anbieter der Chemikalien Ausschau zu halten.“ – sogar „neues Material“ wolle er beschaffen (aus „Führer der Meute“, DER SPIEGEL 28/2000, S. 38).

Während Viele darin Indizien für eine Anwerbung des Bundesamtes für Verfassungsschutz und damit eine viel frühere nachrichtendienstliche „Quellenführung“ sehen wollen, ist die naheliegende Erklärung aus unserer Sicht: eine Vertraulichkeitszusage der Bundesanwaltschaft.

Mehrere nachfolgende Ereignisse stützen diese Hypothese:
Mehrere Ermittlungsverfahren gegen Szczepanski, u.a. wegen Propagandadelikten, bleiben so lange „unbearbeitet“, bis sie presserechtlich verjährt sind.

Beim Pogrom von Wendisch-Rietz am 8. Mai 1992, bei dem der aus Nigeria stammende Lehrer Steve Erenhi nur knapp dem Tode entkommt, ist Szczepanski der Einzige, der sich – ohne erkennbaren Anlass – aktiv vermummt.

Gegen ihn wird zunächst gar nicht ermittelt, obwohl auf „Bundesebene“ wenige Tage später klar ist, dass er als Wortführer die anderen, größtenteils noch minderjährigen Täter aufwiegelte.

Die Teileinstellung des KKK-Verfahrens Anfang September 1992 durch den GBA Beese ist rechtlich und tatsächlich grob falsch und muss als „Gefälligkeit“ gedeutet werden.

Danach sei um Szczepanski keine „Terroristische Vereinigung“ auszumachen, weil seine KKK-Gruppe nur aus zwei Personen bestehe – in Anbetracht der „Berliner“ Mittäter Dennis Mahon, Norman Zühlke und Boris P., sowie Ralf Luckow und Erik Otto in Königs Wusterhausen bereits rechnerisch nicht vertretbar.

Auch sei Szczepanski durch seine Flucht nach Brandenburg „freiwillig“ von seinen Sprengstoffdelikten zurückgetreten. Strafbefreiung durch Flucht? Das deutsche Haftbefehlsrecht müsste umgeschrieben werden. Kein Lehrbuch des Allgemeinen Strafrechts kennt solche Gedanken.

Im März 1992 ermordet KKK-Mitglied Stefan Silar, dessen Briefe in Szczepanskis Berliner Wohnung gefunden wurden, den Kapitän Gustav Schneeklaus. In Berlin erschlägt Norman Zühlke – im Berliner KKK als der „Große Zyklop“ geführt – zwei Obdachlose mit einem Baseballschläger. Doch sogar das Pogrom von Wendisch-Rietz wird nicht als Tat des KKK betrachtet, obwohl die Täter beim Mordversuch mehrmals „Ku-Klux-Klan“ rufen.

Beim Prozess vor dem Landgericht Frankfurt/Oder sagen die beiden BKA-Beamten Recht und Kröschel, also jene die Szczepanski bereits im Februar 1992 befragten und denen er seine Mithilfe bei Sprengstoffermittlungen anbot, als Belastungszeugen gegen ihn aus. Aufgrund ihrer Aussage gelingt es, Szczepanski als einen politischen Überzeugungstäter zu überführen. Doch warum schweigt er über seine angebotene „Unterstützung“ und stellt diese nicht als entlastenden Verdienst dar?

Eine weitere Merkwürdigkeit: Schon im Wendisch-Rietz-Verfahren gibt die Generalbundesanwaltschaft den „Band II“ der Akten ihres KKK-Verfahrens mit den Vernehmungsprotokollen von Szczepanski und anderer Hauptbeteiligter wie Dennis Mahon, Norman Zühlke, Ralf Luckow oder Erik Otto nicht heraus. Bei der Anforderung unseres Ausschusses heißt es nun offiziell, dieser Band sei nicht mehr vorhanden.

Im Zuge seiner Anwerbung durch den Brandenburger Verfassungsschutz meldet sich Szczepanski angeblich von selbst und bittet um Übersendung eines Verfassungsschutzberichtes. Als sich niemand meldet, schreibt er ein zweites Mal – woher diese Zuversicht? Daneben „bestellt“ er beim Berliner LfV ebenfalls eine Informationsbroschüre zur Zeitung „Junge Freiheit“ – wie kommt Szczepanski als „armes Häufchen“ in der Untersuchungshaft von selbst auf diese „Codesprache“?

Unser vorläufiges Fazit: Rechtlich kann die Bundesanwaltschaft die Herausgabe einer „Akte des Bundes“ durchaus verweigern. Wohlwollende Amtshilfe gegenüber dem Brandenburger Untersuchungsausschuss ist dies jedoch nicht – und auch der Verdacht, dass eine V-Person der Bundesanwaltschaft im Jahre 1992 bei einem rassistischen Mordversuch beteiligt war, kann so nicht ausgeräumt werden.