„Obergrenzen“ beim Flüchtlingsschutz nach europäischem Recht nicht zulässig
Vor ein paar Tagen wurde in den Medien über eine Ausarbeitung des wissenschaftlichen Diensts des Bundestages mit dem Titel „Obergrenzen für Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge im Lichte des EU-Rechts“ berichtet. Die Tagesschau hat diese Ausarbeitung hier im Wortlaut veröffentlicht. Ich habe mich damit mal ein wenig beschäftigt und versuche hier die Ergebnisse zusammenzufassen und am Ende aufzuschreiben, was im Lichte der aktuellen politischen Debatte interessant ist.
Lässt sich aus den primär- und sekundärrechtlichen Regelungen der EU eine quantitative Begrenzung ableiten?
Die Ausarbeitung prüft im zweiten Teil (der erste ist die Fragestellung und Einleitung), ob sich aus den primär- und sekundärrechtlichen Regelungen der Europäischen Union quantitative Elemente beim Flüchtlingsschutz ableiten und damit eine quatitative Begrenzung der Aufnahme von Flüchtlingen ableiten lassen. Hierbei hat der Wissenschaftliche Dienst den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unter Bezugnahme auf die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sowie die EU-Grundrechte-Charta (GRC) geprüft. Als Zwischenergebnis wird festgehalten, dass sich dem Wortlaut dieser primärrechtlichen Bestimmungen „keine quantitaven Elemente entnehmen lassen, die in Richtung einer zahlenmäßigen Bestimmung oder Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden weisen“.
In der Folge werden die auf der Grundlage dieser primärrechtlichen Regelungen erlassenen Rechtsakte der EU hinsichtlich der Fragestellung geprüft. Dies sind hier die Qualifikationsrichtlinie, die Asylverfahrensrichtlinie, die Dublin-III-Vorordnung, die Aufnahmerichtlinie, die Massenzustrum-Richtlinie, die Familienzusammenführungsrichtlinie sowie Ratsbeschlüsse über vorläufige Maßnahmen zugunsten von Italien und Griechenland. Auch hierzu führt der wissenschaftliche Dienst aus, dass sich aus diesen sekundärrechtlichen Bestimmungen des EU-Flüchtlingsrechts keine Rechtsfolgen ergeben, die eine quantitative Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen rechtfertigen.
Deshalb wird als Ergebnis dieser Prüfung in diesem Teil der Ausarbeitung insgesamt ausgeführt: „Insgesamt ist festzuhalten, dass das geltende primäre und sekundäre EU-Asyl- und Flüchtlingsrecht keine Regelungen enthält, die eine zahlenmäßige Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden vorsehen.“
Ist eine quantitative Begrenzung künftig möglich?
Im dritten Teil der Auswarbeitung wird geprüft, „ob die Verankerung von kapazitätsmäßigen Obergrenzen für die Aufnahme von international Schutzsuchenden künftig möglich wäre“. Dies wird unter zwei Konstellationen geprüft: a) ob eine Obergrenze auf EU-Ebene und b) eine Obergrenze durch einen Mitgliedsstaat eingeführt werden könnte.
a) Obergrenze auf EU-Ebene?
Zu a) wird neben allgemeinen Erwägungen vor allem die Vereinbarkeit mit der GFK (Recht auf Asyl, Schutz vor Aus- und Zurückweisung) geprüft. Hier kommt der wissenschaftliche Dienst zu, Zwischenergebnis, dass zwar die GRC kein Recht gegenüber der EU auf Einräumung eines Asylstatus birgt, jedoch den Schutz vor Aus- und Zurückweisung von Asylberechtigten bietet. Insofern wäre eine Obergrenze auf EU-Ebene nur möglich, wenn die Flüchtlinge in sichere Drittstaaten zurückgewiesen werden könnten, während es höchst zweifelhaft erscheine, dass eine „Aus- und Zurückweisung von Flüchtlingen in Verfolgerstaaten aus Gründen der Überschreitung einer Obergrenze gerechtfertigt werden könnte“.
Zu a) wird weiterhin die Vereinbarkeit mit der GRC (Verbot der Kollektivausweisung und Verbot der individuellen Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung) geprüft. Hier kommt der wissenschaftliche Dienst zu der Einschätzung, dass es hierdurch zu einer pauschalen Ausweisung von Personengruppen käme, ohne dass deren individueller Status geprüft würde, was vor dem Hintergrund des Verbots der Kollektivausweisung problematisch wäre. Dies könne allenfalls in Anlehnung an den in der EMRK geregelten Notstandsfall gerechtfertigt werden. Dazu wird festgestellt: „Ob ein solcher Notstandsfall auf EU-Ebene allein durch einen Zustrom von international Schutzsuchenden ausgelöst werden könnte, erscheint höchst zweifelhaft.“ Hinsichtlich des Verbots der individuellen Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung kommt der wissenschaftliche Dienst zu der Einschätzung, dass von einem Eingriff in die GRC auszugehen ist, wenn „eine unionsweite Obergrenze dergestalt ausgestaltet (würde), dass die hiervon betroffenen Personen keine Möglichkiet hätten, gegen ihre (individuelle oder kollektive) Aus- und Zurückweisung mit einer wirksamen Beschwerde vorzugehen“.
b) Obergrenze in einzelnen Mitgliedsstaaten?
Die Frage, ob eine quantitative Begrenzung der Aufnahme international Schutzsuchender in einzelnen Mitgliedsstaaten der EU verankert werden könnte, wird hinsichtlich des Umfangs der unionsrechtlichen Pflicht zur Gewährung internationalen Schutzes, der Dublin-III-Verordnung, der Asylverfahrensrichtlinie, der GRC, der Wahrnehmung der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit, der Abweichungsbefugnis, der unionsgerichtlichen Kontrolle sowie der Berufung auf primär- und sekundärrechtliche Bestimmungen geprüft.
Dazu stellt der wissenschaftliche Dienst fest: „Mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH ist anzuerkennen, dass Art. 72 AEUV die Möglichkeit vorsieht, von sekundärrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des RSFR aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit abzuweichen. Es ist jedoch fraglich, ob die autonome Einführung einer mitgliedstaatlich festgesetzten Obergrenze auf dieser Grundlage zulässig wäre. Zweifel bestehen zunächst in Bezug auf den Umstand, dass Bestimmungen in den insoweit einschlägigen Rechtsakten als konkretisierendes Sekundärrecht angesehen werden könnten, das eine unmittelbare Anwendung des Art. 72 AEUV sperrt. Sodann ist fraglich, ob die tatbestandlichen Anforderungen dieser Vorschrift erfüllt werden könnten und ob die Verankerung einer Obergrenze mit Blick auf eine eventuelle Dauerhaftigkeit sowie alternative Maßnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen würde. Hiervon unabhängig spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten in einem solchen Fall jedenfalls die Unionsgrundrechte und die daraus folgenden Vorgaben zum individuellen sowie kollektiven Aus- und Zurückweisungsschutz und zum Recht auf wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 18, 19, 47 GRC zu beachten hätten.“
Im Gesamtergebnis zum dritten Teil kommt der wissenschaftliche Dienst denn auch (ganz kurz gesagt) zu dem Schluss, dass die Einführung einer unionsweiten Obergrenze problematisch wäre. Das sich ein Mitgliedsstaat im Rahmen seiner unionsrechtlichen Pflicht zur Aufnahme international Schutzsuchender entziehen kann, bezeichnet der wissenschaftliche Dienst als zweifelhaft und erklärt, dass viel dafür spräche, „dass die Mitgliedsstaaten in einem solchen Fall jedenfalls die Unionsgrundrechte und die daraus folgenden Vorgaben zum individuellen sowie kollektiven Aus- und Zurückweisungsschutz und zum Recht auf wirksamen Rechtsbehelf (…) zu beachten hätten“.
Und was folgt daraus politisch?
Es ist wie ausgeführt im Rahmen des europäischen und internationalen Rechts quasi unmöglich, eine quantitative Begrenzung für die Aufnahme international Schutzsuchender einzuführen. Und auch für einzelne Mitgliedsstaaten wäre eine Obergrenze nicht vereinbar mit dem gegebenen Rahmen internationalen und europäischen Rechts. Nur mit Notstandserklärung innerhalb der EU und unter Aufkündigung der Genfer Flüchtlingskonvention wäre die Begrenzung der Aufnahme international Schutzsuchender in Deutschland in nationales Recht umsetzbar.
Es mag aktuell politisch angesagt sein, den Eindruck zu erwecken, man könne die aktuelle Situation dadurch entspannen, dass man „Obergrenzen“ oder „Kontingente“ fordert. Und das mag auch Teile der Wählerschaft ansprechen. Nach dieser Ausarbeitung des wissenschaftlichen Diensts ist aber klar, dass diejenigen, die von „Begrenzung der Flüchtlingszahlen“ reden, nichts weiter als heiße Luft verbreiten. Es wäre allen zu raten, sich stattdessen lieber um die Bekämpfung der Fluchtursachen kümmern. Man könnte ja mal mit dem Verbot von Waffenexporten anfangen, den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Syrien lassen und die internationalen Hilfsorganisationen besser ausstatten. Als erste Schritte. Und weil die Bekämpfung der Ursachen lange dauert, wird nur die Organisation einer guten Aufnahme, Versorgung, Betreuung und Integration der Asylsuchenden in der aktuell durchaus nicht leichten Situation helfen.