Corona-Proteste – Zwischen legitimem Protest und Demokratiefeindlichkeit

Corona-Proteste – Zwischen legitimem Protest und Demokratiefeindlichkeit

Dieser Text ist von Daniel Jacobi und mir verfasst worden. Wir versuchen, den aktuellen Wissens- und Diskussionsstand zu den Corona-Protesten zusammenzufassen und mögliche Handlungsoptionen auf kommunaler Ebene im Umgang mit den Protesten aufzuzeigen. Insofern ist es zwar ein Text, der vorrangig für LINKE Amts- und Mandatsträger*innen geschrieben ist, ich gehe aber davon aus, dass ein großer Teil davon auch für eine breitere Öffentlichkeit interessant ist, weshalb ich es hier veröffentliche.

Herzlichen Dank an Presseservive Rathenow für das Zurverfügungstellen des Titelbildes und die Genehmigung zur Nutzung!

Als PDF ist es hier abrufbar:

Corona-Proteste – Zwischen legitimem Protest und Demokratiefeindlichkeit

Die aktuellen Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind für uns als LINKE eine Herausforderung. Wir befinden uns in einem Spannungsverhältnis zwischen Pandemie und notwendigen Eindämmungsmaßnahmen auf der einen, einer starken Protest- und Ablehnungsbewegung auf der anderen Seite.  Eine Verständigung zum Umgang mit diesem Spannungsverhältnis ist dringend geboten. Dieses Papier soll ein Beitrag dazu sein. Dabei stellen sich mehrere Fragen: Was ist das für eine Bewegung? Welchen Charakter hat sie? Was will sie? Wie funktioniert die Mobilisierung?

Eine Annäherung

Eigentlich ist alles an den derzeitigen Protesten altbekannt: Demonstrationszüge gegen Pandemiemaßnahmen sind aus dem Zeitraum der Spanischen Grippe aus den USA überliefert. Pandemieleugnung oder -verharmlosung ebenfalls. Die Mär von einer besseren natürlichen Immunität gegen Krankheiten durch Infektion hält sich seit der Entdeckung des Pockenimpfstoffes im ausgehenden 18. Jahrhundert. Und dass über soziale Netzwerke massenhaft und gezielt Unwahrheiten verbreitet werden und diese geeignet sind, gesellschaftliche Stimmungen zu beeinflussen, ist so neu nun auch nicht. Ebenfalls nicht unbekannt dürfte die Strategie der rechten Szene sein, Proteste gezielt zu unterlaufen, zu steuern und letztlich zu übernehmen. Das war bei den Friedensmahnwachen so, bei den Protesten gegen die Gemeinschaftsunterkünfte Geflüchteter ebenfalls.

Und trotzdem ist etwas bemerkenswert: Die schiere Masse an Menschen, die sich regelmäßig gegen Pandemiemaßnahmen auf der Straße versammelt. In den vergangenen Wochen ist das größte Demonstrationsgeschehen seit Bestehen des Landes Brandenburg zu beobachten. Wurden es in den ersten Wochen des Jahres immer mehr Aufzüge mit immer mehr Teilnehmenden, stagniert die Zahl der Aktivitäten und auch die Mobilisierung aktuell auf hohem Niveau bzw. scheint punktuell rückläufig zu sein. Dies ist, betrachtet aus Perspektive der Verantwortungslogik, in deren Rahmen sich Politik meistens bewegt, paradox, irrational bis hin zum Absurden: Einerseits starben weltweit mindestens 5,6 Millionen Menschen an Covid und eine solch hohe Opferzahl ist kaum zu ertragen. Demgegenüber steht eine Protestbewegung, die aus vielfältigen Gründen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ablehnt und die Impfkampagne teils aktiv unterläuft. Auch vor diesem Hintergrund ist eine Einordnung dringend geboten.

Noch – das sei ebenfalls vorweggeschickt – gibt es nur wenige Analysen und gesicherte Erkenntnisse. Erste Einschätzungen der Sicherheitsbehörden, antifaschistischer Recherchegruppen und kritischer Journalist*innen gibt es jedoch bereits – wenn diese auch durchaus in Teilen widersprüchlich sind. Insofern kann diese Ausarbeitung nur eine erste Näherung sein und soll vor allem der Diskussion zur eigenen Positionierung und zu möglichen Handlungsoptionen dienen.

Proteste in der Pandemie

Jede Protestbewegung hat ihren eigenen Charakter. Dieser wird geprägt von den Teilnehmenden, vom Thema und den hervorgebrachten Argumenten. Aber auch von den gesellschaftlichen Zusammenhängen und politischen Möglichkeiten vor Ort zu einem gegebenen Zeitpunkt. Plastisch wird diese Überlegung beispielsweise an den in Form und Inhalt unterschiedlichen Umweltbewegungen in BRD und DDR der 1980er Jahre. Bei ähnliche Problemlagen und Zielen mussten unterschiedliche Protestformen gefunden werden, ebenso, wie die jeweiligen Strukturen es nötig und möglich machten. Daher sei zur Vergegenwärtigung gesagt: Wir betrachten hier die Proteste gegen die Pandemie auf der Folie eines demokratischen Staates, der meinungspluralistisch in der Logik von politischen Kompromissen und Parteienwettkampf verfasst ist.

Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen gibt es bereits seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020. Anfangs waren sie tendenziell bundesweit und zentral organisiert. Aufbauend auf Erfahrungen mit flüchtlingsfeindlichen Protesten der vorangegangenen Jahre fand die Mobilisierung vor allem in einem bereits politisierten und eher protesterfahrenden Milieu statt. Bei den „Querdenkern“ sammelten sich Personen, die vor allem eines einte: sie lehnten die Maßnahmen gegen die Pandemie ab. Darunter waren Verschwörungsgläubige und Esoteriker aus allen politischen Lagern und von Anfang an auch rechtsextreme Akteure. Die Mobilisierungsfähigkeit war begrenzt, auch wenn einige zentrale Veranstaltungen es auf durchaus ansehnliche Teilnehmerzahlen brachten.

Seit dem Herbst 2021 haben sich Charakter, Strategie, Akteure und Mobilisierung jedoch deutlich gewandelt. Seit Oktober wird bundesweit dezentral mobilisiert. Dabei waren die Teilnehmerzahlen vor allem im Dezember und Januar sehr hoch. Allein im Dezember waren mindestens 65.000 Menschen in Brandenburg bei ca. 300 Veranstaltungen auf der Straße. Im Januar steigerte sich das sogar noch. Vor allem montags, welcher mittlerweile bundesweit als Mobilisierungstag gelten kann, fanden und finden in fast 100 Orten in Brandenburg zeitgleich Versammlungen mit für die jeweiligen Orte durchaus hohen Teilnehmerzahlen statt.

Im Folgenden soll zuerst eine Charakterisierung der Proteste vorgenommen werden, anschließend folgt eine Einordnung der ideologischen Versatzstücke, gefolgt vom Blick auf Akteure, Mobilisierung und Strategie.

a) Charakter

Für uns legt ein vertiefender Blick auf den Charakter der Proteste drei Elemente offen: Erstens sind diese diffus, zum Teil rechtsoffen oder rechtsextrem geprägt und gesteuert, jedoch ist eine Einordnung in Milieus, Klassen oder gar politische Ausrichtung kaum möglich. Als verbindendes Element erscheinen zweitens häufig Verschwörungsideologien oder deren Versatzstücke. Drittens ist vielen Aufzügen die Grenzüberschreitung gegen staatliche Regeln gemeinsam, seien es Hygieneregeln oder auch das Versammlungsrecht.

Der Charakter der Demonstrationen ist stark von den maßgeblichen Akteuren geprägt und kann dadurch sehr unterschiedlich sein. Einige Aufzüge sind klar rechtsextrem geprägt (bspw. Wittstock, Wittenberge mit der rechtsextremen Kleinstpartei III. Weg) oder gesteuert (bspw. Cottbus mit AfD und Zukunft Heimat)[1], der Großteil der Teilnehmenden in den meisten Orten ist jedoch nicht der extremen Rechten zuzuordnen. Vielmehr haben sich – verstärkt durch die Debatte um eine mögliche Impfpflicht – diverse Milieus zum Protest vereint. Getragen und vereint wird die Bewegung durch Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Dabei sind die Motivationen bei den Teilnehmenden ebenfalls unterschiedlich: von der Ablehnung jeglicher Eindämmungsmaßnahmen über massiven sozialen Druck und die Enttäuschung über fehlende oder fehlgeleitete Hilfen und damit verbundener Existenzangst bis hin zur Impfskepsis werden viele Gründe für eine Teilnahme an den Protesten angegeben. Insofern kann auch nicht von einer politisch einheitlichen Bewegung gesprochen werden. Im Gegenteil: Inhaltlich lässt sich einzig die Kritik an den staatlichen Eindämmungsmaßnahmen und Ablehnung einer Impfpflicht als einigendes Moment ausmachen.

Diese Kritik wird häufig kombiniert mit großen Mythen, die verschwörungsideologische Substanz bei den Protesten ist nicht übersehbar (siehe b) Ideologische Versatzstücke). Gelbe „Judensterne“ mit der Aufschrift „ungeimpft“, zumeist selbstgemalte Plakate mit kruden Sprüchen oder auch das „Q“ der QAnon-Bewegung prägten den Charakter vor allem bei den großen Aufzügen in Berlin oder Stuttgart in den letzten beiden Jahren, bei den kleineren und mittlerweile in kurzen Intervallen stattfindenden Aufzügen – euphemistisch als Spaziergänge bezeichnet – sind solche Entgleisungen eher selten. Diese scheinbare Normalität gibt den Aufzügen einen demokratischen Anstrich, wir haben jedoch Zweifel, ob diese dezidiert unpolitische Note den Kern der Bewegung abbildet. Zu viele Falschbehauptungen und Unwahrheiten kursieren in entsprechenden Gruppen, die zu den Demonstrationen aufrufen, verschwörungsideologische Anleihen in Reden oder auf Plakaten werden als Teil des Ganzen toleriert.

Ebenfalls prägen Grenzüberschreitungen gegen staatliche Akteure die Szenerie. Diese haben eine Außenwirkung, wirken aber zumindest im Osten des Landes über historische Anleihen an die Montagsdemonstrationen 1989 als motivierendes Element und Verankerung auch nach innen. Seien es nun unerlaubte Aufzüge, das planvolle Nichtbefolgen von Auflagen oder ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Ordnungsbehörden, die davon ausgehenden Signale sind eindeutig: Der demokratische Staat erscheint schwach; zu schwach, um seine Regeln zur Pandemiebekämpfung durchzusetzen, zu schwach, um den gegen ihn gerichtete Zorn zu kanalisieren und seine Symbole und Institutionen zu schützen. Diese offenbare Schwäche oder das als inkonsequent empfundene Fehlen der Ordnungsmacht bei diesen Aufzügen ist ein Grund für den Frust vieler Menschen, die sich seit Beginn der Pandemie mehr oder weniger aktiv an der Eindämmung beteiligen und die Maßnahmen mittragen. Diese fühlen sich durch die ständigen Aufzüge und das Nichteinhalten von geltenden Hygieneregeln irritiert und sehen es häufig als Ausdruck eines Staates, der nicht in der Lage scheint oder nicht willens ist, seine selbst aufgestellten Regeln durchzusetzen. Dies führt nach unserer Wahrnehmung zunehmend zu einem Verlust an Vertrauen in das politische System und die Handlungsfähigkeit des Staates bei einem Teil der Menschen.        

Hinzu kommt als weiteres, einendes Moment die Ablehnung der freien Presse. Diese wird als staatsnah oder gar staatsgesteuert wahrgenommen. Dabei wird durch handelnde Akteure eine bei vielen Teilnehmenden vorhandene Skepsis gegenüber der Presse bewusst verstärkt (Stichwort „Lügenpresse“) und nicht selten richten sich Aggressionen der Teilnehmenden gegen die Versammlungen begleitende Journalist*innen.  

b) Ideologische Versatzstücke

Die expliziten Rückgriffe auf Verschwörungsideologien sind ein zentrales, formprägendes Moment der Proteste. In Krisenzeiten finden diese besonderen Anklang: Komplexen Vorgängen und einem Gefühl der Ohnmacht werden mit Feindbildern besetzte Erklärungsansätze entgegengesetzt, um eine – vermeintliche – Handlungsfähigkeit herzustellen. Bereits zu Beginn der Covid-19-Pandemie wurden Verschwörungsideologien über soziale Medien, Chatkanäle und auf Demonstrationen verbreitet. Diese reichen von der Gates-Verschwörung über Impf(stoff)mythen bis zum Framing der jeweiligen Regierung als „diktatorisch“. Der zurzeit auf vielen Demonstrationen zu hörende Ruf: „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“, ist Ausdruck dieses Denkens. Denn in dieser Parole wird das oben angeführte Spannungsfeld aufgelöst in einer Erzählung eines autoritären Staates, der seine Bürger*innen knechtet – was mitnichten der Fall ist und eine Relativierung tatsächlicher (historischer) Diktaturen darstellt.  

Diese Erzählungen sind anschlussfähig an andere Mythen und Diffamierungen. Wir könnten auch sagen: Eine Person, die überzeugt ist, sie befände sich im Widerstand gegen eine Diktatur oder Bill Gates kontrolliere die Welt, glaubt häufig auch, dass die Presse gelenkt ist und oder die Regierungen weltweit das Ausmaß von Impfschäden geheim halten. Diese Art zu argumentieren ist zwar leicht zu widerlegen und die Zahl der Menschen, die diese Form von Erzählung für bare Münze nehmen, eher gering. Jedoch bleibt in einer meinungspluralistischen Gesellschaft eben doch häufig etwas davon hängen. Das beste Beispiel sind die Bedenken gegenüber den mRNA-Impfstoffen, die eine nachweisbare Wirkung auf den Verlauf von Covid-Erkrankungen haben und deren Schadenspotential in etwa im Bereich von Tetanus- oder FSME-Schutzimpfungen liegen. Trotzdem halten sich weiterhin Versatzstücke von verschwörungsideologischen Erzählungen, zum Beispiel dass die Impfstoffe unsicher seien oder eben kaum gegen schwere Krankheitsverläufe schützten. Diese Versatzstücke wirken vor allem verunsichernd, bspw. bei der Impfquote bei Kindern, welche vor allem auf die niedrige Impfmotivation von Eltern aufgrund zunehmender Unsicherheit zurückzuführen ist.

c) Akteure und Mobilisierung

Wenn wir über Akteure des Protestgeschehens schreiben, kommen wir am Befund nicht vorbei, dass häufig rechte Personen in Mobilisierung und/oder Durchführung involviert sind. Zwar ist in den vergangenen Wochen auffällig, dass sich eher protestunerfahrene Personen den Protesten anschließen. Die Plattform des Protests, von der Anmeldung (so diese stattfindet) über die Bewerbung vor allem in sozialen Netzwerken bis hin zur Begleitung vor Ort wird jedoch oftmals von protesterfahrenen, rechtsextremen Akteuren gestellt: So zieht der III. Weg in der Prignitz die Fäden, in Cottbus tritt mit Jean-Pascal Hohm der frühere Kopf der Identitären Bewegung in Brandenburg und jetzige Chef des AfD-Kreisverbands Cottbus als Anmelder und Scharfmacher auf. Auch ein Klaus Baumdick ist in Neuruppin kein unbeschriebenes Blatt, trat er doch für die AfD als Kandidat für die Bürgermeisterwahl an. Baumdick, so biedermännisch er auch daherkommen mag, ist klar im rechtsextremen Spektrum zuhause. So tat er kürzlich in einem Interview kund, gegebenenfalls zu Gewalt gegen die Sicherheitskräfte zu greifen, wenn es die Situation erfordere. Auch greift er bei Redebeiträgen immer wieder holocaustrelativierende Vergleiche auf.

Die Strategie dieser rechtsextremen Akteure ist klar: Es geht darum, den eigenen Resonanzraum zu erweitern, Seriosität zu demonstrieren, Anschlussfähigkeit und damit Bedeutung zu gewinnen. Die Akteure wissen (auch aus der Erfahrung der flüchtlingsfeindlichen Proteste 20215/2016): Die Netzwerke, die sich hier bilden bleiben bestehen und sind später auch bei anderen Themen aktivierbar.

Dies, aber auch die starke mediale Präsenz der Proteste führt dazu, dass die Teilnahme an solchen Veranstaltungen zum Event wird. Bei den Teilnehmenden wird dadurch die Selbstwirksamkeit verstärkt und eine positive Selbstwahrnehmung aktiviert. Kognitive Dissonanz wird durch das gemeinsame Erlebnis und die Eigenwahrnehmung als bedeutsame politische Kraft beseitigt. Die Stärkung der Zugehörigkeit zur Gruppe und deren Verteidigung gegen Angriffe von außen befördern gruppendynamische Prozesse, die zur weiteren Stärkung der Identität als Zugehörige zur Gruppe der Protestierenden führen. „Wir sind stärker als der Staat“ ist das vorherrschende Gefühl und leistet der Suggestion Vorschub, den Willen der Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten. Ja, das Nichthandeln der staatlichen Akteure kann sogar den Eindruck erwecken, ein Teil der Sicherheitsorgane sei auf der Seite der Protestierenden. Dies wird in einschlägigen Chatgruppen auch immer wieder behauptet und mit Bildern einzelner Beamt*innen belegt, die die Protestierenden durch Gesten oder Zurückhaltung bei der Durchsetzung von Auflagen zu unterstützen scheinen.

Apropos Chatgruppen: Auch im Bereich der Sozialen Medien tummeln sich nicht wenige rechte Scharfmacher. Der Mörder von Senzig, der wohl aus Angst vor Bestrafung für die Fälschung von Impfbescheinigungen seine Familie und danach sich selbst umbrachte, war in einschlägigen Telegram-Gruppen unterwegs. In einer der „Querdenker“-Chatgruppe mit 500 Mitgliedern waren zwei Abgeordnete der AfD in Brandenburg und ein Mitarbeiter von Andreas Kalbitz. Dies dürfte nicht die einzige Telegram-Gruppe sein, in der die Landtagsfraktion der AfD mitmischt.

d) Proteststrategie

Schauen wir auf die Strategie, so ist zuerst festzustellen, dass es durchaus ein gemeinsames Ziel gibt: Die meisten Teilnehmenden der Aufzüge eint die Kritik am Staat und staatlichem Handeln. Das geht bei einem Teil bis hin zur bewussten Ablehnung des Staats, seiner Institutionen und der Demokratie.

Der Wechsel der Strategie von zentralen zu dezentralen sowie von angemeldeten zu unangemeldeten Veranstaltungen spricht diese Sprache. Und auch das bewusste Setzen auf die Überforderung der Sicherheitsorgane durch bundesweit zeitgleiche Veranstaltungen an hunderten Orten ist nicht zufällig. Dies ist ein bewusst gewählter strategischer Ansatz, denn es geht darum deutlich zu machen, dass die staatlichen Institutionen tatenlos zusehen müssen und Hygienemaßnahmen ebenso wenig durchsetzbar sind, wie Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Die Schwäche des demokratisch verfassten Staates zu offenbaren, war schon bei den Demonstrationen im Jahr 2020 Zweck vieler Aktionen der „Querdenker“-Bewegung. Dazu zählten zum Beispiel Versuche, Polizeieinsätze durch die Platzierung von Kindern in der ersten Reihe zu verunmöglichen, wie zum Beispiel auf der Demonstration im November 2020 vor dem Bundestag gegen die Novelle des Infektionsschutzgesetzes. Hierzu wurde im Vorfeld in Telegram-Gruppen aufgerufen, es ist also davon auszugehen, dass Kinder bewusst als Mittel eingesetzt wurden. Mittlerweile kam es durch solche Aktionen auch zu verletzten Kindern, zum Beispiel bei der Auflösung eines nicht angemeldeten Aufzugs in Schweinfurt am 1. Weihnachtsfeiertag.  

Gleichzeitig bleiben Inhalte diffus und divers. Jede und jeder ist willkommen, die oder der dagegen ist, warum und mit welchem Ziel auch immer. Dies dient einerseits der Anschlussfähigkeit und andererseits dem Ziel, als Protestbewegung insgesamt zu wachsen und damit Wirkungsmacht zu demonstrieren bzw. zu entfalten.

Aber auch die Sicherheitsbehörden selbst sind als Akteur mit in die Betrachtung einzubeziehen. Denn tatsächlich haben sie in Brandenburg bis in den Januar hinein keine Strategie gegen Verstöße gegen Versammlungsauflagen, unangemeldete Versammlungen oder auch Verstöße gegen die Eindämmungsmaßnahmen gezeigt. Hier ist seit etwa Mitte Januar ein Strategiewechsel im polizeilichen Handeln erkennbar: gegen unangemeldete Versammlungen wird bereits präventiv vorgegangen und in Schwerpunktorten der rechtsextremen Mobilisierung wird deutlich gemacht, dass die Handlungsfähigkeit der Polizei auch bei gewaltsamen Auseinandersetzungen gegeben ist.

Handlungsfelder und -optionen

Welche Möglichkeiten haben wir, um den beschriebenen Protesten zu begegnen? Wie kann das gelingen im Spannungsfeld zwischen legitimer Kritik an den staatlichen Maßnahmen, fehlenden Kontakten durch die Pandemie und den Aufzügen?

Hier wird für uns ein Problem deutlich: Es fehlt aktuell an Räumen für demokratischen Diskurs und demokratischen Protest. Wo sich Protest regt, findet sofort Raumnahme rechtsextremer Akteure statt, ohne dass dem von demokratischer Politik und Zivilgesellschaft etwas entgegengesetzt wird oder werden kann. Dazu tragen auch die Träger des Protests bei. Die Aussage eher protestunerfahrener Akteure: „Wir grenzen niemanden aus“, führt nahezu zwangsläufig zu Vereinnahmung durch Rechtsextreme bei gleichzeitigem Fernbleiben demokratischer Kräfte. Dadurch wird jedoch der Eindruck verstärkt, dass nur die extreme Rechte sich den (legitimen) Anliegen kritischen Protests annimmt.

Dieser „fehlende Mindestabstand“ legitimen Protestpotentials zu rechtsextremen Akteuren ist deshalb eine der wichtigsten Herausforderungen für die Zivilgesellschaft. Der Protest ist divers und zu einem großen Teil nicht rechtsextrem oder demokratiefeindlich. Die Grenzen sind jedoch fließend und die Gefahr der Radikalisierung der Proteste wie auch der Teilnehmenden ist gegeben. Das lange Schweigen der Zivilgesellschaft und der politischen Akteure zu diesen Protesten ist beredtes Zeugnis, wie schwierig der Umgang mit der Bewegung gerade wegen deren Diversität ist. Dabei ist tatsächlich auffällig, dass die Zivilgesellschaft in Brandenburg, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Lage war, den Handlungsspielraum rechtsextremer Akteure effektiv zu begrenzen, dieser Mobilisierung nur punktuell etwas entgegensetzen kann. Auch dadurch entsteht der fatale Eindruck, es handele sich um eine Bewegung, die die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert.

Es kommt deshalb in erster Linie darauf an, demokratische Akteure und Zivilgesellschaft wieder handlungsfähig zu machen und in die Lage zu versetzen, Räume demokratischen Diskurses in der Auseinandersetzung und der Kritik mit den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu eröffnen. Dies kann nur lokal organisiert werden und wird unterschiedliche Formen finden müssen. Ansätze können Diskussionsrunden mit von der Pandemie besonders betroffenen Akteuren, Sprechstunden, (digitale) Stammtische und ähnliches sein, um vor Ort im Gespräch zu bleiben und schnell Bedarfe an Unterstützung zu erkennen. Gleichzeitig braucht es stärkere mediale Präsenz solcher demokratischen Räume.

Und auch als Partei tragen wir hier eine Verantwortung, entsprechende Räume zu organisieren und zur Verfügung zu stellen. Wir müssen auch weiterhin deutlich machen, dass wir zwar grundsätzlich Eindämmungsmaßnahmen notwendig finden und auch dazu aufrufen, sich und andere durch Impfungen zu schützen, dass wir jedoch nicht bereit sind hinzunehmen, dass die sozialen Verwerfungen durch die Pandemie größer werden und einzelne Gruppen durchs Raster fallen. Pandemie ist Zeit der Solidarität und wir sind diejenigen, die denen eine Stimme geben, die von den regierenden Parteien vergessen werden oder die besondere Lasten zu tragen haben. Dabei sollten wir weiterhin auf Dialog mit besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen bzw. Branchen setzen und als Sprachrohr für diese wirken. Als solidarische Kraft sind wir die, die sich den Sorgen von Eltern und Kindern, Kulturschaffenden, Gastronom*innen und Soloselbstständigen annehmen und ihre Anliegen im politischen Raum thematisieren und für Verbesserungen kämpfen.

Und auch solidarische Aktionen – bspw. organisierte Nachbarschaftshilfe oder Maskenverteilung für Menschen mit geringem Einkommen und Risikogruppen – sind auch weiterhin sinnvolle Handlungsoptionen, die wir weiterentwickeln sollten.

Es stellt sich auch die Frage, ob wir als LINKE uns in die Proteste einreihen sollen, auch um sie von links zu beeinflussen. Wir raten davon ab. Nicht nur, weil wir der Meinung sind, dass man mit Nazis nicht demonstriert (und die sind wie gezeigt, in der Regel dabei). Das ist sicher ein wichtiger Grund. Es geht aber um mehr. Protest um des Protests willen kann ebenso wenig unser Handlungsfaden sein, wie die Ignoranz gegenüber Inhalt und Charakter der Proteste als solche. Es gibt bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen keine Anknüpfungspunkte für solidarische, linke Politik. Im Kern ist der Protest bei aller Diversität unsolidarisch, verschwörungstheoretisch und demokratiefeindlich und damit durch uns weder positiv zu begleiten noch zu beeinflussen. Das ist auch der große Unterschied zu den Hartz-IV-Protesten: Diese Bewegung hat Anknüpfungspunkte für uns geboten, weil sie im Kern eine solidarische Bewegung gegen Armut war. Die aktuelle Bewegung der Corona-Proteste hat einen völlig anderen Charakter.

Dennoch sind nicht alle aktuell Protestierenden für Solidarität und Demokratie verloren. Deshalb sind Gesprächsfäden zu Einzelnen, gerade auch Menschen, die aus Enttäuschung oder Existenzangst derzeit keine andere Ausdrucksform finden, sicher sinnvoll. Hier kann nur vor Ort im Einzelfall abgewogen werden, wie hier ein Dialog möglich sein könnte. Von öffentlichen Gesprächsrunden und Einladungen an Initiator*innen würden wir jedoch abraten. Dies würde nur zu einer Verstärkung der angesprochenen Selbstwirksamkeit durch die womöglich öffentliche Aufmerksamkeit und damit zu Aufwind der Bewegung führen, und auch zu Recht Unverständnis in weiten Teilen der demokratischen Öffentlichkeit hervorrufen.

Und es stellt sich natürlich auch die Frage des Gegenprotests. Dieser befindet sich immer im Zweispalt. Einerseits sind auch demokratische Akteure nicht einverstanden mit allen staatlichen Maßnahmen und wollen auch nicht in die Rolle kommen, diese verteidigen zu müssen. Andererseits lehnen sie die aktuellen Proteste ab und wollen ein Zeichen dagegensetzen. Dieser Zweispalt ist nur schwer auflösbar und die Entscheidung für eine Form des Gegenprotests kann nur im Diskurs der Zivilgesellschaft und der demokratischen politischen Akteure vor Ort erfolgen. Durchaus lohnende Ansätze gab es in den vergangenen Wochen, bei denen nicht selten wir als Partei entscheidende Anstöße gegeben haben. Offene Briefe und Aufrufe, um der solidarischen Mehrheit eine Stimme zu geben, Mahnwachen für die Opfer der Pandemie, Aktionen pro Impfen oder auch Kundgebungen zur Solidarität mit dem Personal in Medizin und Pflege sind nur einige vor Ort gefundene Formen der Gegenbewegung. Diese zu verstärken und damit neue Handlungsmacht für Zivilgesellschaft und demokratische Politik zu eröffnen, sollte unser Anliegen sein.

Zum Schluss

Dieses Papier stellt unseren aktuellen Informations- und Diskussionsstand Anfang Februar 2022 nach einer Klausur der Landtagsfraktion mit Expert*innen aus der Zivilgesellschaft und er Sicherheitsbehörden und einer Diskussion im Landesvorstand dar. Wir haben es mit einer sehr dynamischen Situation zu tun und sowohl die Analyse als auch die Handlungsoptionen können sich schnell ändern. Wichtig ist, dass wir dazu in der Partei und mit der Zivilgesellschaft im Gespräch bleiben.

Wir werden die Situation weiterhin eng begleiten und neue Entwicklungen analysieren. Wir kommen gern zu euch vor Ort um gemeinsam mit euch nach den besten, auf die Situation vor Ort angepassten Handlungsoptionen zu suchen und wir sind natürlich auch telefonisch und per Mail für eure Anregungen und Fragen offen.

Kontakt:

Landtagsfraktion DIE LINKE

Andrea Johlige, Sprecherin für Kommunalpolitik, Migrations- und Integrationspolitik und antifaschistische Politik: mail@andrea-johlige.de, Telefon 0331/966-1521

Daniel Jacobi, Referent für den Untersuchungsausschuss 7/1 („Coronamaßnahmen“), für ein Tolerantes Brandenburg, Asyl- und Flüchtlingspolitik, Medienpolitik und die Betreuung des Hauptausschusses: daniel.jacobi@linksfraktion-brandenburg.de, Telefon 0331/966-1545


[1] Auf etwa 14% schätzt das Brandenburger Innenministerium den Anteil rechter Teilnehmenden