Nur eine Geschäftsordnungsänderung? – Weshalb das Vorhaben der Koalitionsfraktionen zur Schaffung eines „Notparlaments“ problematisch ist
Schon einige Zeit geisterte der Ruf nach einem „Notparlament“ durch die Reihen der Koalitionsfraktionen im Brandenburger Landtag. Ziel soll sein, auch für den Fall, dass viele Abgeordnete erkrankt oder unter Quarantäne gestellt sind, einen handlungsfähigen Landtag zu haben. Das ist auch erst einmal völlig richtig und auch ich denke, dass für einen solchen Fall Vorsorge getroffen werden muss. Die Frage ist nur, wie man das macht. Die Idee einer eiligen Verfassungsänderung dazu wurde zumindest vorerst auf Eis gelegt und nun soll es eine Geschäftsordnung geben.
Dazu liegt ein Antrag der Koalitionsfraktionen vor (dieser ist am Ende des Textes vollständig dokumentiert), der im Kern besagt, dass das Präsidium, alternativ wenn dieses nicht beschlussfähig ist, die Präsidentin mit ihren Vizepräsident*innen eine Notlage feststellen kann, mit der Folge, dass die Beschlussfähigkeit des Landtages ab 22 Personen gegeben ist, sofern alle Fraktionen nach ihrem Stärkeverhältnis repräsentiert sind. Diese Regelung soll befristet bis 30.6.2020 gelten.
Im Hauptausschuss des Landtages wurde dieser Antrag im Kern bestätigt, lediglich eine Änderung wurde vorgenommen: Diese Regelung soll gelten, wenn mindestens 23 Abgeordnete anwesend sind. Es ergäbe sich damit eine Zusammensetzung des „Notparlaments“ wie folgt: 6 SPD, 6 AfD, 4 CDU, 3 Grüne, 3 LINKE, 1 BVB/Freie Wähler.
Meine Fraktion hat im ersten Schritt eine eigene Formulierung vorgeschlagen, die im Kern besagt, dass die Entscheidung beim verbleibenden Teil des Landtages liegen muss (auch diese ist am Ende des Textes dokumentiert). Dieser wurde im Hauptausschuss abgelehnt.
Am 1. April soll der Landtag in seiner Sitzung diese Änderung der Geschäftsordnung beschließen.
Aus meiner Sicht greift der Vorschlag der Koalitionsfraktionen (zu) tief in die Rechte von Fraktionen und einzelnen Abgeordneten ein, ohne dass mildere Mittel auch nur angedacht werden. Von CDU und SPD in Brandenburg habe ich ehrlich gesagt nichts anderes erwartet. Aber wie eine Partei wie Bündnis 90/Die Grünen, die sich ja gern als Bürgerrechtsprtei versteht, solche Einschränkungen ohne dass man auch nur den leisesten Widerspruch hört, mitmachen kann, ist mir ein Rätsel.
Da kaum Zeit ist für eine ausführliche Debatte in den parlamentarischen Gremien, hab ich meine Gedanken dazu aufgeschrieben. Ich persönlich gehe davon aus, dass bei Beschluss der Regelung wie vorliegend, eine Klage beim Landesverfassungsgericht angezeigt ist.
Notwendigkeit eines „Notparlaments“
Aktuell ist der Landtag nicht in einer Situation, nicht arbeitsfähig zu sein. Er wird in der kommenden Woche in seiner normalen Zusammensetzung zusammentreten und Vorsichtsmaßnahmen aus Infektionsschutzgründen treffen: so ist die Zahl der Plätze im Plenarsaal vergrößert worden, damit die Abgeordneten Abstand zueinander halten können. Gleichzeitig hat der parlamentarische Beratungsdienst darauf hingewiesen, dass es möglich ist, dass Abgeordnete die Debatten in ihren Büros verfolgen und nur zu den Abstimmungen den Plenarsaal betreten.
Bisher ist keine Corona-Erkrankung eines Abgeordneten bekannt, einige wenige Abgeordnete befanden sich allerdings bereits in Quarantäne. Zumindest aktuell ist also eine Notlage, die ein „Notparlament“ nötig macht, nicht erkennbar. Selbst wenn die Infektionsschutzregeln weiter verschärft werden müssten, wären weitere Schutzmaßnahmen denkbar, wie das Tragen von Schutzkleidung während der Parlamentssitzung, die Verlagerung in eine größere Räumlichkeit (die Bremer Bürgerschaft hat das gerade vorgemacht!) o.ä. Insofern gibt es – sofern es um Infektionsschutz geht – diverse Maßnahmen, die einen wesentlich milderen Eingriff in die Arbeit des Parlaments bedeuten würden als die vorgeschlagene Regelung.
Anders sieht es aus, wenn tatsächlich eine größere Anzahl der Abgeordneten erkrankt oder in Quarantäne ist und deshalb nicht an der Plenarsitzung teilnehmen kann. Auch das kann passieren und für den Fall braucht es tatsächlich eine Lösung, um die Arbeitsfähigkeit des Landtages sicher zu stellen. Dass eine Absenkung der Zahl der Abgeordneten, die für eine Beschlussfähigkeit des Landtages unbedingt anwesend sein müssen, dafür eine sinnvolle Möglichkeit ist, ist unstrittig. Insofern ist die Kernfrage der Diskussion, wer eine solche Notlage unter welchen Bedingungen feststellen kann und welche Beschlussrechte ein solches „Notparlament“ dann hat.
Wer die Notlage feststellt, die zu einem „Notparlament“ führt
Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen soll festgelegt werden, dass das Präsidium des Landtages, und wenn dieses nicht beschlussfähig ist, die Präsidentin im Einvernehmen mit ihren Vizepräsidenten eine Notlage feststellen kann. Diese Feststellung führt dazu, dass der Landtag bereits mit 23 anwesenden Abgeordneten beschlussfähig ist, sofern die Fraktionen entsprechend ihrem Stärkeverhältnis vertreten sind.
Im Kern bedeutet das, dass die Koalition, die im Präsidium eine Mehrheit hat, jederzeit eine solche Notlage beschließen kann. Es gibt keinerlei konkrete Voraussetzungen dafür, wie bspw. dass mehr als 50% der Abgeordneten krank oder in Quarantäne sein müssen. Die Oppositionsfraktionen können in dieser Frage jederzeit überstimmt werden. In einer solchen Frage, bei der es darum geht, dass nahezu alle Beschlussrechte auf 23 statt 88 Abgeordnete übertragen werden, wäre eine zwingende Einbeziehung der Oppositionsfraktionen aus meiner Sicht unbedingt angezeigt, wenn man die Entscheidung dem Präsidium überlassen will.
Hinzu kommt: Im Präsidium gibt es keine Vertretungsregelungen. Das heißt, wenn die Vertreterin bzw. der Vertreter einer kleinen Fraktion, die nur ein Mitglied im Präsidium haben, erkrankt ist, hat die Fraktion keinerlei Mitwirkungsmöglichkeit an der Entscheidung.
Noch schwieriger wird es, wenn das Präsidium nicht beschlussfähig ist. Dann sollen nach dem Vorschlag der Koalition die Präsidentin (SPD) und ihre Vizepräsidentin (CDU) und ihr Vizepräsident (AfD) im Einvernehmen diese Notlage feststellen. Drei (!) Abgeordnete könnten also entscheiden, dass für die Verabschiedung von Gesetzesvorhaben oder auch den Beschluss eines Haushalts, der mehrere Milliarden Euro umfasst, nur noch ein Viertel der Abgeordneten anwesend sein muss. Und als kleine Anmerkung nebenbei: Damit macht man sich auch noch von der AfD abhängig, da das Einvernehmen mit den Vizepräsidenten in dem Vorschlag intendiert ist. Und wieder ist die demokratische Opposition außen vor.
Ein Ausweg wäre deshalb, vorzusehen dass die Entscheidung im Präsidium mit einer qualifizierten Mehrheit oder einstimmig gefasst werden muss (und bei Nichtanwesenheit von Präsidiumsmitgliedern deren Votum anderweitig eingeholt wird), um zu sichern, dass die Opposition an der Entscheidung zwingend beteiligt wird.
Noch besser wäre allerdings, die Entscheidung auf die im Parlament anwesenden Abgeordneten zu verlagern. Auch das sind dann ggf. nur 23 Abgeordnete (vielleicht aber auch mehr) und auch hier müsste das Stärkeverhältnis der Fraktionen abgebildet sein (also auch hier könnte die Koalition die Opposition überstimmen). Vor allem aber entscheidet der Teil des Parlaments, der anwesend sein kann und nicht ein nachgelagertes Gremium oder gar nur drei Personen und die Entscheidungsfindung findet in der Öffentlichkeit statt, was beim Vorschlag der Koalitionsfraktionen nicht der Fall wäre, da das Präsidium nicht öffentlich tagt. Gerade in einer Krisensituation, bei einer drohenden Arbeitsunfähigkeit des Parlaments und einer so weitreichenden Entscheidung, dass gerade ein Viertel der Abgeordneten des Landtages über Gesetze und Anträge entscheiden soll, ist es aus meiner Sicht unbedingt notwendig, dass die Debatte dazu in der Öffentlichkeit stattfindet und nicht hinter verschlossenen Türen.
Voraussetzungen, die für die Feststellung der Notlage erfüllt sein müssen
Im Vorschlag der Koalitionsfraktionen fehlen zudem konkrete Voraussetzungen, die für die Feststellung einer Notsituation erfüllt sein müssen. Im Text heißt es: „Eine Notlage liegt vor, wenn eine nicht nur unerhebliche Anzahl der Abgeordneten aufgrund einer außergewöhnlichen Gefahren- oder Schadenslage, wie Pandemien, Naturkatastrophen, Eintritt des Verteidigungsfalls, daran gehindert ist, an den Sitzungen persönlich teilzunehmen.“
Eine nicht unerhebliche Anzahl von Abgeordneten ist völlig unbestimmt. Sind das 5, 10, 20 oder 40? – man weiß es nicht. Auch gibt es keine genauere Spezifikation, warum die Abgeordneten gehindert sind, persönlich teilzunehmen.
Damit könnte auch argumentiert werden, dass die Notlage aus Infektionsschutzgründen festgestellt werden muss, auch wenn noch nicht alle anderen möglichen Mittel zum Infektionsschutz (wie oben ausgeführt) ausgeschöpft sind. Auch andere Gründe könnten angeführt werden, bspw. weil der ÖPNV nicht wie sonst fährt und es deshalb schwieriger ist für einige Abgeordnete, zur Parlamentssitzung zu kommen oder die Abgeordneten mit Kindern ihre Kinder beaufsichtigen müssen usw. Das klingt weit hergeholt, soll aber verdeutlichen, weshalb es ein Problem ist, dass keine objektiven Voraussetzungen festgelegt werden sollen, die zur Definition der Notlage erfüllt sein müssen. Und auch wenn nicht festgelegt ist, wie viele Abgeordnete eine „nicht unerhebliche Anzahl“ sind, ist Willkür Tür und Tor geöffnet.
Ich persönlich plädiere für eine Formulierung, die konkret festlegt, dass wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Landtages aufgrund einer Erkrankung oder einer durch das zuständige Gesundheitsamt festgelegten Quarantäne oder erhöhter Infektionsschutznotwendigkeit wegen der Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe der Präsidentin ihre Abwesenheit angezeigt haben, die dann bei der Landtagssitzung anwesenden Abgeordneten die Entscheidung treffen können, dass eine unaufschiebbare Notlage vorliegt.
Beschlüsse, die das „Notparlament“ fassen darf
Welche Beschlüsse dieses „Notparlament“ fassen darf, ist eine weitere Frage. Da es sich nur um eine Absenkung der für die Beschlussfähigkeit notwendigen Abgeordneten handelt, kann jeder Beschluss und jedes Gesetz verabschiedet und nahezu jede Wahl durchgeführt werden, wenn man dies nicht in der Geschäftsordnung einschränkt. Aus meiner Sicht muss das Beschlussrecht auf unaufschiebbare Tatbestände beschränkt werden.
Eine Möglichkeit der Beschränkung des Beschlussrechts wäre die Aufnahme der Formulierung der Feststellung einer „unaufschiebbaren“ Notlage, was die Koalitionsfraktionen jedoch ablehnen. Der Parlamentarische Beratungsdienst schreibt dazu: „Der Begriff „unaufschiebbare Notlage“ kombiniert zwei voneinander zu trennende Punkte: die äußere Notlage, die eine Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder des Landtages unmöglich oder unzumutbar macht, und die innere Notlage des Landtages, die darin besteht, dass eine Beschlussfassung unaufschiebbar ist, weil ein Verschieben zu Rechtsverstößen (z.B. Verletzung von Umsetzungsfristen in EU-Richtlinien) oder schweren Nachteilen führt.“
Allein das Wort „unaufschiebbar“ würde demnach klar stellen, dass nicht jeder Beschluss von einem solchen „Notparlament“ getroffen werden kann, sondern nur diejenigen, die unbedingt notwendig sind.
Alternativ kann auch auf andere Weise das Beschlussrecht dieses „Notparlaments“ beschränkt werden, bspw. durch klare Definition welche Gegenstände das Beschlussrecht umfasst. Auf eine Beschränkung zu verzichten ist für mich inakzeptabel.
Der Aspekt des Verteidigungsfalls
Aus meiner Sicht wirft ein Satz im Antrag der Koalitionsfraktionen besondere Fragen auf. Und das ist dieser hier: „Eine Notlage liegt vor, wenn eine nicht nur unerhebliche Anzahl der Abgeordneten aufgrund einer außergewöhnlichen Gefahren- oder Schadenslage, wie Pandemien, Naturkatastrophen, Eintritt des Verteidigungsfalls, daran gehindert ist, an den Sitzungen persönlich teilzunehmen.“
Da stellt sich unwillkürlich die Frage, weshalb eine Regelung eines „Notparlaments“, die angeblich nur eingeführt wird, um die Arbeitsfähigkeit des Landtages in der Corona-Krise zu sichern und die am 30.6.2020 außer Kraft treten soll, eine Regelung enthält, die von Naturkatastrophen und gar dem Verteidigungsfall spricht. Naturkatastrophen können immer auftreten, na klar. Und auch der Verteidigungsfall kann jederzeit eintreten. Aber wer rechnet tatsächlich damit, dass dies bis 30.6.2020 passieren wird? Und weshalb ist es den Koalitionsfraktionen so wichtig, dies hier in der Änderung der Geschäftsordnung zu berücksichtigen?
Mit fällt nur ein Grund ein: Diese Regelung soll jetzt befristet eingeführt werden und später soll die Befristung heraus genommen werden. Das jetzt ist der Testfall und wenn man das einmal durchgesetzt hat, streicht man später einfach die Befristung und hat dann dauerhaft eine Regelung zur Herabsetzung der Beschlussfähigkeit des Parlaments in der Geschäftsordnung.
Auch der Parlamentarische Beratungsdienst des Landtages hat diese Vermutung, da er auf unsere Nachfrage schreibt: „Die Nennung von Beispielsfällen kann bei der Auslegung des allgemeinen Begriffs hilfreich sein, ist aber rechtlich nicht geboten. Da der Entwurf neben der Erwähnung von Naturkatastrophen und dem Verteidigungsfall auch von der Präsidentin „oder dem Präsidenten“ sowie von Fraktionen „und Gruppen“ spricht, dürfte davon auszugehen sein, dass die Regelung so angelegt ist, dass sie – nach gründlicherer Prüfung, als dies derzeit möglich ist – auch dauerhaft in die GOLT aufgenommen werden kann.“
Die Strategie der Koalition ist klar: Einerseits ist in einer Krise die Bereitschaft der Aufgabe parlamentarischer Rechte naturgemäß höher und die Möglichkeit der Meinungsbildung dazu ist in dieser Zeit eingeschränkt und andererseits ist es nach Beendigung der Krise eine viel niedrigere Hürde einfach eine vorhandene Regelung zu entfristen, als sie (ohne Krisensituation) neu einzuführen.
Die Koalition nutzt hier also die Krise mit dem Ziel, ein Instrument dauerhaft einzuführen, das eigentlich einer intensiven parlamentarischen Beratung und Meinungsbildung bedürfte. „Notparlament“ auf Raten also. Wir können diese Debatte gern führen, aber mit der notwendigen Zeit, ausführlicher parlamentarischer Befassung und vor allem nicht unter dem Druck einer Krisensituation.
Welche Mechanismen wirken, wenn die Notlage festgestellt ist
In der Verfassung des Landes Brandenburg ist verankert, dass jedes Mitglied des Landtages im Landtag das Wort ergreifen, Fragen und Anträge stellen und bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abgeben kann. Diese Verfassungsregelung kann natürlich durch eine Änderung der Geschäftsordnung nicht außer Kraft gesetzt werden. Insofern braucht es Absprachen zwischen den Fraktionen und innerhalb der Fraktionen, die sicherstellen, dass nach Feststellung der Notlage auch tatsächlich die Mehrheitsverhältnisse des Landtages bei der Anwesenheit der Abgeordneten abgebildet sind. Das heißt, dass jede Fraktion sichern muss, dass genau so viele Abgeordnete anwesend sind, wie ihr nach dem Stärkeverhältnis zustehen.
Gleichzeitig hieße das aber auch, dass Abgeordnete freiwillig auf ihr verfassungsmäßiges Recht auf Teilnahme und Stimmabgabe verzichten. Was aber, wenn es in einer Fraktion mehrere Abgeordnete gäbe, die dazu nicht bereit sind? Dann müsste die Fraktion anzeigen, dass sie mit mehr Abgeordneten teilnehmen wird und es müsste gerechnet werden, wie viele Abgeordnete der anderen Fraktionen unter dieser Bedingung anwesend sein müssten, um die Mehrheitsverhältnisse entsprechend abzubilden (das wären dann mehr als die 23 Abgeordneten, die zur Sicherung der Beschlussfähigkeit mindestens notwendig wären).
Nun kann man sagen, ist ja prima, was ist eigentlich dein Problem? Wenn deine Fraktion anzeigt, dass sie in jedem Fall vollständig oder auch nur mit der Hälfte der Abgeordneten teilnimmt, hat sich das „Notparlament“ erledigt. Das stimmt und insofern könnte man argumentieren, dass die demokratische Opposition faktisch ein Veto-Recht hat, weil sie die Regelung durch Anwesenheit außer Kraft setzen kann.
Das vernachlässigt jedoch zwei Aspekte. Der eine ist der öffentliche Druck. Einer Fraktion, die ein regulär tagendes Plenum durch Anwesenheit erzwingt, wird von der Koalition in der Öffentlichkeit immer vorgeworfen werden, sie würde die Arbeitsfähigkeit des Landtages aufs Spiel setzen. Im Fall einer tatsächlich vorliegenden Notlage aufgrund der Pandemie (also dass wirklich mehr als die Hälfte der Abgeordneten verhindert ist teilzunehmen) würde das sogar stimmen. Für den eher willkürlichen Fall, ohne dass diese Voraussetzungen vorliegen, muss diese Fraktion entscheiden, ob sie mit diesem öffentlichen Vorwurf leben will, um die demokratischen Prinzipien nicht leichtfertig über Bord zu werfen, oder ob sie sich dem wider der eigenen Auffassung beugt.
Der zweite Aspekt betrifft den einzelnen Abgeordneten. Das Teilnahme- und Abstimmungsrecht ist kein Fraktionsrecht sondern ein individuelles Recht jeder und jedes einzelnen Abgeordneten. Die vorgesehene Regelung der Geschäftsordnung sieht jedoch vor, dass die Fraktionen entsprechend den Mehrheitsverhältnissen anwesend sein müssen. Das eröffnet eine weitere Drucksituation auf die einzelnen Abgeordneten. Sind Einzelne nicht bereit auf das verfassungsmäßige Recht der Teilnahme und Beschlussfassung an Landtagssitzungen zu verzichten, werden sie auch Druck aus der eigenen Fraktion bekommen indem ihnen vorgeworfen wird, dass sie ihre eigenen Interessen über die der Fraktion stellen.
Es kommt im parlamentarischen Betrieb regelmäßig zu Pairing-Verfahren. Das bedeutet, dass Abgeordnete der Opposition bei (begründeter) Abwesenheit von Koalitionsabgeordneten ihrerseits an Abstimmungen nicht teilnehmen, um zu sichern, dass die Mehrheitsverhältnisse weiterhin abgebildet bleiben. Dabei braucht es natürlich Absprachen und guten Willen auf allen Seiten, sonst funktioniert es nicht. Im Brandenburger Landtag hat das bisher auch immer funktioniert. Es ist aber ein qualitativer Unterschied, ob dies im Einzelfall praktiziert und in der Regel ein Abgeordneter gesucht wird, der freiwillig auf sein Abstimmungsrecht verzichtet, oder ob faktisch durch die Geschäftsordnung und Beschluss des Präsidiums festgelegt wird, dass drei Viertel der Abgeordneten einer Fraktion auf ihre Recht auf Teilnahme und Abstimmung verzichten sollen und die Fraktion aushandeln muss, wer das sein soll.
Und, auch wenn das nur ein Hilfsargument sein kann: Dadurch besteht die Gefahr bei einer länger andauernden Krise, dass es Abgeordnete gibt, die regelmäßig am „Notparlament“ teilnehmen (dürfen) und andere, die dies nicht tun. Dies kann für das Selbstverständnis und öffentlicher Wahrnehmung von Abgeordneten ebenso schädlich sein wie für die innere Verfasstheit von Fraktionen, zumal die parlamentarische Demokratie allen Abgeordneten die gleichen Rechte und Pflichten zuweist.
Und nun?
Wir sind einig, dass es eine Regelung braucht, die die Arbeitsfähigkeit des Parlaments auch in der Krise sicherstellt. Der vorliegende Vorschlag der Koalition ist aber aus den dargestellten Gründen für mich nicht zustimmungsfähig.
Für mich ergeben sich folgende Anforderungen an eine zustimmungsfähige Vorschrift:
- Die Entscheidung, ob eine Notlage vorliegt, trifft der anwesende Teil des Parlaments nach öffentlicher Debatte.
- Es sind klare Voraussetzungen für die Feststellung einer solchen Notlage festzuschreiben sowohl bezüglich der Zahl der verhinderten Abgeordneten als auch hinsichtlich der Gründe für die Verhinderung.
- Es ist eine klare Eingrenzung vorzunehmen, zu welchen Gegenständen dieses „Notparlament“ Beschlüsse fassen darf.
- Die Regelung darf sich weder auf Naturkatastrophen noch auf den Verteidigungsfall sondern nur auf die aktuelle Situation der Corona-Krise beziehen.
Anhang
Antrag der Koalitionsfraktionen:
Beschlussfähigkeit des Landtages in Notlagen ermöglichen
Der Landtag möge beschließen: Die vorläufige Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg vom 25. September 2019 (Drucksache 7/2-B) wird wie folgt geändert:
Nach § 61 wird ein neuer § 61a eingefügt:
„§ 61a
Beschlussfähigkeit in außergewöhnlichen Notlagen
(1) Stellt das Präsidium eine Notlage fest, so ist der Landtag abweichend von § 61 beschlussfähig, wenn mindestens 22 Abgeordnete anwesend sind, es sei denn, die Fraktionen und Gruppen sind bei der Abstimmung nicht entsprechend ihrem Stärkeverhältnis repräsentiert und eine benachteiligte Fraktion oder Gruppe rügt dies bis zur Eröffnung der Abstimmung oder ist mit keinem Mitglied vertreten. Eine Fraktion oder Gruppe, die mit keinem Mitglied vertreten ist, kann der Präsidentin oder dem Präsidenten auf geeignete Weise vor Eröffnung der Abstimmung mitteilen, dass die Abwesenheit ihrer Mitglieder der Beschlussfähigkeit nicht entgegensteht. Ist auch das Präsidium nicht beschlussfähig, kann die Notlage durch die Präsidentin oder den Präsidenten, im Benehmen mit den Vizepräsidenten, festgestellt werden. Ist die Präsidentin oder der Präsident an der Anwesenheit im Landtag gehindert, übermittelt sie oder er die Entscheidung auf geeignete Weise der Vizepräsidentin oder dem Vize-präsidenten. Eine Notlage liegt vor, wenn eine nicht nur unerhebliche Anzahl der Ab-geordneten aufgrund einer außergewöhnlichen Gefahren- oder Schadenslage, wie Pandemien, Naturkatastrophen, Eintritt des Verteidigungsfalls, daran gehindert ist, an den Sitzungen persönlich teilzunehmen.
(2) Die Geschäftsordnung kann durch die gemäß Absatz 1 reduzierte Besetzung des Landtags nicht geändert werden.
(3) § 61a tritt mit Ablauf des 30. Juni 2020 außer Kraft.“
Begründung:
Die aktuelle Pandemie führt vor Augen, dass die bisherige Geschäftsordnung nicht den Fall regelt, falls das Parlament aufgrund akuter Notlagen nicht in vollständiger Besetzung tagen kann oder soll. Diese Regelungslücke soll mit dem Änderungsantrag geschlossen werden.
Der neue § 61a soll es dem Landtag ermöglichen, in einer Notbesetzung zu tagen und die zwingend erforderlichen Gesetze und Anträge beschließen zu können.
Die Notlage muss durch das Präsidium festgestellt werden; sollte das Präsidium nicht beschlussfähig sein, stellt die Präsidentin oder der Präsident im Benehmen mit den Vizepräsidenten die Notlage fest.
Der Landtag ist bei Feststellung der Notlage beschlussfähig, wenn mindestens 22 Abgeordnete anwesend sind. Die Widerspiegelung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse wird gewahrt, indem den Fraktionen und Gruppen ein Widerspruchsrecht zusteht, sollten nicht die Stärkeverhältnisse der Gruppen und Fraktionen gewahrt sein.
Das in derartiger reduzierter Besetzung tagende Parlament kann die Geschäftsordnung des Landtages nicht ändern.
Die Regelung gilt nur vorläufig und tritt mit Ablauf des 30. Juni 2020 außer Kraft.
Und hier der erste Vorschlag meiner Fraktion:
„Stellt die Mehrheit der anwesenden Mitglieder im Falle des Anzweifelns der Beschlussfähigkeit auf Antrag der Präsidentin oder des Präsidenten eine unaufschiebbare Notlage fest, so gilt der Landtag als beschlussfähig, wenn mindestens 23 Abgeordnete anwesend sind und eine Repräsentation entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen sichergestellt ist.
Die Entscheidungen sind dem Landtag bei seinem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung vorzulegen.
Wird die Genehmigung versagt, so ist die Versagung im Gesetz- und Verordnungsblatt unverzüglich bekannt zu machen.“