Rede zur Aktuellen Stunde "Lage in Afghanistan und die Konsequenzen für Brandenburg"

Rede zur Aktuellen Stunde „Lage in Afghanistan und die Konsequenzen für Brandenburg“

Meine Fraktion hat die Aktuelle Stunde „Lage in Afghanistan und die Konsequenzen für Brandenburg“ beantragt. Dazu haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt, der von der Koalition abgelehnt wurde. Die Koalition hat selbst einen Antrag „Brandenburg lässt die afghanischen Helferinnen und Helfer nicht im Stich“ vorgelegt, der angenommen wurde.

Meine Rede zur Debatte ist hier als Video zu finden. Am Ende der Debatte kam ich nochmals zu Wort, dieses Video gibt es hier.

Außerdem dokumentiere ich hier beide Reden, zitiert nach der vorläufigen stenografischen Niederschrift:

„Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zehntausende Menschen wollen aus Afghanistan heraus und sitzen fest. Darunter sind Tausende, die in den vergangenen 20 Jahren die Bundesrepublik Deutschland vor Ort unterstützt haben. Diese Ortskräfte und ihre Familien drohen wegen ihrer Arbeit für Deutschland den Taliban zum Opfer zu fallen. Für diese Menschen habe wir eine Verantwortung, und dieser Verantwortung wird Deutschland gerade nicht gerecht.

Nun wird der eine oder andere sagen: Die Bundesregierung versucht doch seit Wochen alles, um so viele Menschen wie möglich zu evakuieren. – Das Problem ist: Diese Aussage ist nachweislich falsch. Merkel, Seehofer und Maas haben eben nicht alles Mögliche getan, sondern – im Gegenteil – sie haben das Mögliche verhindert.

Täglich dringen weitere Fakten darüber an die Öffentlichkeit, welche bürokratischen Tricks der Bundesregierung eingefallen sind, um die Zahl der zu evakuierenden Ortskräfte möglichst klein zu halten. Da erfahren wir von Büros, in denen Visaanträge gestellt werden sollten, die nie aufgemacht haben, von Mailadressen, bei denen die Betroffenen nie eine Antwort erhalten haben, willkürlichen Kriterien wie Stichtagen, bis wann man für die Bundesrepublik gearbeitet haben muss, usw. Erst gestern hat das
Verwaltungsgericht Berlin das Auswärtige Amt zwingen müssen, einer Ortskraft, die bis 2016 für die Bundesrepublik gearbeitet hat, und ihrer Familie Visa zu erteilen.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat das Mögliche verhindert. Sie wollte sich bewusst aus der Verantwortung für diese Menschen stehlen. Dafür spricht auch, dass die Evakuierung so spät begonnen hat. Ja, es gab auch Fehleinschätzungen. Aber jedem, der sich auch nur ein bisschen mit der Situation in Afghanistan beschäftigt hat, war klar, dass die Taliban nach dem Abzug der westlichen Truppen das Land wieder übernehmen werden. Das war keine Frage des Ob, sondern eine Frage des Wann.

Linke und Grüne haben genau deshalb im Juni im Bundestag gefordert, die Ortskräfte zu evakuieren – zu einem Zeitpunkt, als eine Rettungsaktion auch für die Menschen außerhalb Kabuls noch möglich gewesen wäre. Die Große Koalition hat die Evakuierung abgelehnt. Das war kurzsichtig, kaltherzig und verantwortungslos!

„Aber warum?“, fragt man sich angesichts dieses Desasters. Darauf hat der
Kanzlerkandidat der CDU, Armin Laschet, die Antwort gegeben: 2015 darf sich nicht wiederholen. – Dieser Satz, meine Damen und Herren, ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich 2015 in Willkommensinitiativen engagiert haben. 2015 war deutlich mehr als viele Flüchtlinge, die ins Land kamen: 2015 war auch das Jahr der Solidarität.

Dieser Satz zeigt auch die moralische Verkommenheit eines Teils der Politik. Der Angst, dass die Aufnahme von Menschen aus Afghanistan den Regierungsparteien im Bundestagswahlkampf schaden könnte, wurde die Humanität geopfert. So wurde nicht das Mögliche getan, als es noch möglich war. Dass SPD und CDU mit dieser Linie nicht durchgekommen sind, ist einzig und allein dem öffentlichen Druck und der Empörung der Menschen mit Gewissen zu verdanken. Erst als der Aufschrei angesichts des Umgangs mit den Ortskräften nicht mehr zu überhören war, änderte sich die politische Linie, und es wurde schnell ein Evakuierungsprogramm gestartet.

Inzwischen ist klar, dass die USA in fünf Tagen abziehen werden. Die Bundeskanzlerin hat angekündigt, dass die Rettungsmission nur noch einige wenige Tage stattfinden kann. Erste Meldungen sagen, dass die letzten Flüge heute gehen. Zehntausende Menschen werden im Land zurückbleiben – nicht nur Ortskräfte, sondern auch Journalisten, Frauenrechtlerinnen, Lehrerinnen, Wissenschaftler, Autoren und Künstlerinnen. Das alles sind Menschen, deren Leben jetzt akut in Gefahr
ist. Die UN-Hochkommissarin hat vorgestern von ersten Massenhinrichtungen und Menschenrechtsverletzungen berichtet. Es steht zu befürchten, dass dies Alltag wird, wenn erst alle NATO-Truppen das Land verlassen haben.

Doch wie konnte es eigentlich dazu kommen? Vor 20 Jahren wurden erstmals deutsche Soldaten unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung nach Afghanistan – in den Krieg der NATO gegen den Terror – entsandt. Leider – und an der Stelle muss ich wirklich sagen: leider – haben sich die Bedenken, die die PDS – später DIE LINKE – von Anfang gegen diesen Einsatz vorgebracht hat, nun auf katastrophale Weise bewahrheitet. Dieser Einsatz kostete nicht nur Milliarden, er brachte auch unermessliches Leid mit sich: 240 000 Tote, 5,5 Millionen Menschen auf der Flucht – das ist die Bilanz dieses Einsatzes. Zurück bleibt ein Land in Angst, bleiben Menschen, die um ihr Leben fürchten müssen, weil sie am Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft gearbeitet haben.

Die Afghanistanpolitik des Westens und Deutschlands ist krachend gescheitert. Das ist nicht nur ein militärisches, sondern vor allem auch ein humanitäres und moralisches Desaster.

Doch was tun? In unserem Entschließungsantrag haben wir aufgeführt, was aus unserer Sicht nötig und möglich ist. Da ist zuallererst der Druck auf den Bund: Gerade jetzt, wo jede Stunde zählt, muss das Auswärtige Amt die Bürokratie Bürokratie sein lassen und auch ohne vorherige Visazusage die Evakuierung von Menschen – von Ortskräften und deren Familien – ermöglichen. Der Papierkram kann wirklich warten; dafür ist später in Deutschland genug Zeit.

Es braucht aber noch mehr: Es braucht schon jetzt humanitäre Aufnahmezusagen vor allem für die Menschen, die sich aktiv am Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens in Afghanistan beteiligt haben. Auch diejenigen, die als Angehörige sexueller, ethnischer und religiöser Minderheiten von Tod und Verfolgung bedroht sind, brauchen Aufnahmezusagen.

Brandenburg sollte auch darauf drängen, dass flüchtlingspolitische Lehren aus diesem Desaster gezogen werden. Die bereits in Deutschland lebenden Afghanen, die jahrelang, politisch von der Bundesregierung gesteuert, keine sichere Bleibeperspektive hatten, müssen diese jetzt endlich erhalten. Dazu gehört ein Abschiebungsverbot nach Afghanistan oder auch ein dauerhafter Abschiebestopp, den es übrigens, meine Damen und Herren, bis heute nicht gibt. Dazu gehört die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen, um Integrationsperspektiven zu eröffnen, und – das liegt mir besonders am Herzen – es braucht endlich Änderungen beim Verfahren für den Familiennachzug. Die Inkaufnahme getrennter Familie ist wahrlich kein Problem der letzten Wochen in Afghanistan. Die Behinderung des Familiennachzugs durch das Auswärtige Amt ist eine strukturelle Missachtung von Menschenrechten – und das muss endlich ein Ende haben.

Meine Damen und Herren, wir begrüßen, dass sich Brandenburg bereit erklärt hat, die Erstaufnahme von Ortskräften zu übernehmen, und sich auch an deren dauerhafter Aufnahme beteiligt. Das ist aus unserer Sicht übrigens eine Selbstverständlichkeit. Das wird aber nicht ausreichen. Wir wollen, dass Brandenburg ein humanitäres Aufnahmeprogramm für einmalig mindestens 500 Personen schafft. Dabei sollten insbesondere Frauen berücksichtigt werden, die zivilgesellschaftlich aktiv waren bzw.
sich beruflich oder in der Öffentlichkeit für Menschen- und Frauenrechte engagiert haben und deshalb nun einer besonderen Bedrohung durch die Taliban unterliegen.

Wir wollen auch, dass sich Brandenburg beim Bund darum bemüht, die bisher für syrische Geflüchtete geltende Landesaufnahmeanordnung auf Afghanistan ausweiten zu dürfen. Dies könnte den Afghanen, die bereits seit Jahren in Deutschland leben, die Möglichkeit eröffnen, Familienangehörige nachzuholen.
Beim Familiennachzug kann das Land übrigens auch auf eine weitere Art und Weise tätig werden: Es gibt die Möglichkeit des erweiterten Familiennachzugs nach § 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz. Demnach kann landesrechtlich konkretisiert werden, dass die Ausländerbehörden angehalten sind, den erweiterten Familiennachzug zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte zu ermöglichen.

Ich will noch zu einem weiteren Punkt kommen, der mir sehr wichtig ist. Das sind die bereits hier lebenden Afghaninnen und Afghanen. Es ist zu erwarten, dass diese, auch wenn ihr bereits gestellter Asylantrag abgelehnt wurde, nun dauerhaft in Brandenburg bleiben werden. Selbst der Innenminister, der noch im Juli dieses Jahres einen Afghanen abgeschoben hat, obwohl dies wegen der Lage in Afghanistan humanitär unverantwortlich war, wird inzwischen wissen, dass Abschiebungen nach Afghanistan dauerhaft nicht möglich sein werden.

Das heißt aber auch, dass diese Menschen, die als ausreisepflichtige oder geduldete Personen bisher keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu
Integrationsmaßnahmen und zum Arbeitsmarkt hatten, jetzt Integrationsperspektiven brauchen. Es heißt, dass sie möglichst eine Aufenthaltserlaubnis erhalten sollten und dass das Land zusätzliche Integrationsangebote für diese Menschen schaffen muss.

Meine Damen und Herren, noch ein Wort zum Antrag der Koalitionsfraktionen, der gestern Abend reinkam. Ich hatte zuvor gewisse Erwartungen – bis ich ihn dann gelesen habe. Wir werden uns zu diesem Antrag enthalten, schlicht weil nichts darin steht außer Lyrik, Selbstverständlichkeiten, einem Prüfauftrag und einer Bleiberechtsregelung, die sich vom Bund abhängig macht, obwohl es andere Lösungen gibt. Das ist in unserem Entschließungsantrag nachzulesen.

Meine Damen und Herren, wir tragen auch in Brandenburg Verantwortung für die Menschen in Afghanistan. Lassen Sie uns alles dafür tun, dass so viele Menschen wie möglich gerettet werden und dass diejenigen, die hier in Brandenburg leben – ob neu hinzukommend oder schon länger hier lebend -, die Chance haben, sich ein selbstbestimmtes, gutes Leben aufzubauen. Ich freue mich auf die Debatte und hoffe auf Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“

Und hier die Rede zum Ende der Debatte:

„Frau Präsidentin! Ich bedanke mich für die Debatte. Ich habe leider nicht mehr viel Zeit, deswegen kann ich auf ein paar Sachen nicht mehr eingehen. Ich möchte nur um etwas bitten: Ich habe vorhin schon gesagt: In Ihrem Entschließungsantrag steht eigentlich nichts. Ich finde das schade. Und Frau Budke, ich glaube Ihnen, dass Sie sich da sehr bemüht haben. Ich erahne aber auch ungefähr, welche Debatten da von Ihren Koalitionspartnern geführt wurden.

Ich kann Sie nur bitten: Schauen Sie sich unseren Entschließungsantrag noch einmal an. Ich weiß, Sie werden ihn ablehnen. Dennoch sind dort genau die Sachen niedergeschrieben, die Brandenburg tun kann. Wir werden auf diese Punkte nicht das Urheberrecht beanspruchen, und ich biete gern an, dass wir bei der Umsetzung helfen. Das sind die Punkte, die für die Menschen – sowohl für die, die in Brandenburg ankommen, als auch für die, die schon hier leben – beim Familiennachzug, bei den Bleibeperspektiven, bei der Integration wirklich wichtig wären. Deswegen kann ich an dieser Stelle nur herzlich darum bitten: Handeln Sie! – Herzlichen Dank.“