Gastbeitrag: "Polen ist für Schutzsuchende nicht sicher!" - Bericht von der Delegationsreise an die Grenze von Polen und Belarus

Gastbeitrag: „Polen ist für Schutzsuchende nicht sicher!“ – Bericht von der Delegationsreise an die Grenze von Polen und Belarus

Eigentlich wollte ich selbst einen ausführlichen Reisebericht von unserer Delegationsreise an die Grenze von Polen und Belarus verfassen. Wegen der Landtagssitzung in der vergangenen Woche bin ich bisher nicht dazu gekommen. Und dann sah ich den Bericht von Henriette Quade, die Mitglied des Landtages Sachsen-Anhalt und eine der Mitreisenden bei der Delegation ist. Da in ihrem Bericht all das steht, was ich auch aufgeschrieben hätte, habe ich sie gebeten, diesen als Gastbeitrag auf meinen Blog nehmen zu dürfen. Das spart mir Arbeit und bedeutet für euch, dass ihr den Bericht schneller lesen könnt. Danke, liebe Henriette, dass du der Veröffentlichung hier zugestimmt hast!

Und nun zum Bericht:

Polen ist für Schutzsuchende nicht sicher!

von Henriette Quade

„Eine sichere Grenze ist eine, an der keine Menschen sterben müssen“

An der polnisch-belarussischen Grenze spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab. Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt sitzen Schutzsuchende zum Teil seit Wochen in den Wäldern und Sümpfen entlang der 400 Kilometer langen Grenze fest – ohne Zugang zu Nahrung, Wasser oder medizinischer Versorgung. Die polnischen Behörden haben das Grenzgebiet zur Sperrzone erklärt, behaupten eine Notlage und lassen weder humanitäre Nothilfeorganisationen noch medizinisches Personal oder unabhängige Presseberichterstatter:innen passieren. Von NGOs ganz zu schweigen. Diese Notlage ist ein zentraler Punkt: Sie ist die politische Erzählung der Rechten – nicht nur in Polen- und sie dient als Legitimation für die Aussetzung von Menschenrechten, EU-Recht und Pressefreiheit im Grenzgebiet und den Ausnahmezustand, in dem die ca. 200 000 Menschen, die in diesem Gebiet wohnen und leben ausgeliefert sind.

Menschen auf der Flucht, die v.a. aus Kriegs- und Krisengebieten wie Irak, Syrien, Afghanistan, dem Jemen oder dem Iran kommen, werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit sich selbst (und der illegalisierten Hilfe der Engagierten) überlassen. Mindestens 21 Menschen sind bisher in diesem Grenzgebiet gestorben, darunter auch Kinder. Ärzte ohne Grenzen musste sich Anfang Januar aus dem Grenzgebiet zurückziehen, weil sie von den polnischen Behörden wiederholt daran gehindert wurden, Menschen zu helfen.

#nobordersdelegation

Vom 14. bis 16. Januar startete eine Gruppe Abgeordneter der LINKEN aus Europaparlament, Bundestag und mehreren Landtagen gemeinsam mit Aktivisten der Refugeearbeit und begleitet von einigen Journalist:innen als #nobordersdelegation nach Polen. Wir wollten uns ein Bild von der Lage vor Ort machen, Engagierte in Polen treffen und mit NGOs und Menschenrechtsorganisationen sprechen, um zu verstehen, was in Polen und entlang der Grenze gerade passiert.

Detention Center? Haftlager!

Unser erster Stopp führte uns leider nicht in das Detention Center Wędrzyn. In diesem Ort unweit der deutschen Grenze gibt es eines von acht Haftlagern, in dem ca. 600 Geflüchtete festgehalten werden. Insgesamt sind ca. 2000 Menschen inhaftiert. Schon in den letzten Wochen gab es Berichte über unerträgliche Zustände in diesen Lagern und speziell auch in Wędrzyn. Anfang des Monats sind dort Menschen in einen Hungerstreik getreten. Diese Haftlager unterstehen dem Verteidigungsministerium, die Gelände auf denen sie sich befinden, sind militärisches Sperrgebiet. Wir haben uns frühzeitig auch mit Hilfe polnischer Abgeordneter darum bemüht, mit Erlaubnis der polnischen Regierung in das Lager in Wędrzyn hineinzukommen. Leider vergebens. Zunächst wurde mit Verweis auf Corona abgelehnt, dann auf die Spionageabwehr verwiesen. Eine unserer ersten Gesprächspartnerinnen war Katarzyna Kretkowska von Nowa Lewica (Neue Linke). Wir trafen sie in Krosno, südlich von Wędrzyn. Auch hier gibt es eine solche Haftanstalt, auch hier ist nicht klar wer, warum, wie lange und in welchem Zustand einsitzt, auch sie ist ein klarer Bruch mit Unionsrechts und den Anforderungen an die menschenwürdige Behandlung Geflüchteter. Aber nicht vergleichbar mit anderen – hier sind „nur“ 75 Menschen inhaftiert, das Gelände ist in einer Stadt sicht- und erreichbar.

Werbung für die Grenztruppen am Zaun des Militärgeländes, auf dem sich auch die Haftanstalt Krosno befindet.

Andere Haftlager liegen im Nirgendwo und sind für Nichtmilitärangehörige nicht zu erreichen. Die Abgeordnete bestätigte die Berichte über diese Lager:

Menschen werden gezwungen in Zimmern mit 20 Menschen zu leben, haben keinen Zugang zu Rechtsberatung, Kommunikationsmitteln, Öffentlichkeit. Auch die medizinische Versorgung ist unzureichend, von psychologischer Hilfe ganz zu schweigen. Niemand kann genau sagen wer, wie lange und warum dort einsitzt. Und vor allem: Auch die Betroffenen wissen weder was mit ihnen passiert, noch was mit ihrer Familie geschehen ist. Ob sie leben, wo sie sind, ob sie sie wieder sehen. Katarzyna, die als Abgeordnete versucht, die Zustände zu ändern und unter bestimmten Bedingungen Zugang erhalten kann beschrieb, dass die Ungewissheit und das Ausgeliefertsein für die Betroffenen, die oft traumatisiert sind, unerträglich ist. Als Teil der Militärinfrastruktur entziehen sich die 8 Haftlager öffentlicher Kontrolle und Sichtbarkeit. Polen verstößt damit klar gegen Europa- und Völkerrecht. Menschen wird das Recht auf ein Asylverfahren verwehrt, sie werden unter katastrophalen Bedingungen pauschal inhaftiert und nicht entsprechend der EU-Richtlinien versorgt und betreut. Das erklärt vielleicht, warum die polnische Regierung Interesse daran hat, diese Lager gegenüber Journalist:innen und Abgeordneten abzuschirmen.

„This is not an emergency on migration, it is a humanitarian emergency.“

Schon im ersten Treffen machten unsere Gesprächspartner:innen klar: „This is not an emergency on migration, it is a humanitarian emergency.“ Diese Einschätzung bestätigte sich im Lauf der Reise immer mehr und bringt es auf den Punkt. Anna Gorska, eine unserer Gesprächspartnerinnen von Razem, formulierte die linke Antwort auf das rechte Narrativ Polen und die EU würden angegriffen: „Lukaschenko behandelt diese Menschen als Waffen. Es wäre die Aufgabe der EU dafür zu sorgen, dass er sie nicht als Waffen gebrauchen kann und sie endlich in Sicherheit zu bringen.“

Unsere Tour führte uns weiter nach Warschau, wo wir am Freitagabend Vertreter:innen der drei linken Parteien Razem, Nowa Lewica (Neue Linke) und Zeloni (Grüne) und Aktive des Netzwerks Grupa Granica (https://www.medico.de/blog/hilfe-an-der-grenze-18460) sprechen konnten. Unsere Gesprächspartner:innen beschrieben die politische Atmosphäre und Stimmung in Polen, die – ähnlich dem Diskurs in Deutschland – eine Notsituation beschwört, die keine ist: Polen wird nicht von Migrant:innen angegriffen. Polen muss nicht fürchten, durch Migration destabilisiert zu werden. Polen hat kein objektives Problem, Menschen menschwürdig zu versorgen und unterzubringen. Aber Polen hat eine rechte Regierung, die alles daransetzt, diejenigen, die sie als Feinde begreift, zu bekämpfen und so eine humanitäre Notlage für Geflüchtete erzeugt, die es in der Europäischen Union schlichtweg nicht geben dürfte. Hier erfuhren wir mehr über die Hilfsstrukturen in Polen und wie ihnen die Arbeit erschwert wird. Erschütternd und bis dahin neu für uns: Selbst wenn Menschen, die im Wald von Grenzpatrouillen aufgegriffen oder von z.B. Anwohner:innen am Rande des Waldes gefunden werden und in ein Krankenhaus gebracht werden, sind sie dort nicht sicher. Immer wieder wurden Menschen direkt aus dem Krankenhaus von der Grenzpolizei abgeholt und weggebracht. Wohin weiß niemand. Kommunikationsmittel werden den Schutzsuchenden weggenommen.

Menschenrechtsverletzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Überhaupt ist vorenthaltenes Wissen ein Riesenproblem. Es findet keinerlei Dokumentation oder Registrierung entlang der Grenze statt. Wer wann wo angekommen ist, wohin die Menschen gebracht werden, ob sie zurückgeschoben werden, ob, wo und wie lange sie inhaftiert werden, in welchem Zustand sie sind – das alles bleibt unklar. Für Helfende, Hilfsorganisationen, Familienangehörige und insbesondere die Betroffenen selbst. Das macht es auch schwer zu sagen, wie viele Menschen noch in den Wäldern und Sümpfen des eigentlich wunderschönen Białowieża-Nationalparks, der als letzter Tieflandurwald Europas gilt, ausharren.

Das bestätigte auch unser Gespräch mit Vertreterinnen des polnischen Helsinki-Komitees (https://twitter.com/hfhrpl), des Migration-Forums (https://forummigracyjne.org) und des SIP (https://interwencjaprawna.pl/en/): Uns wurde berichtet, dass selbst das Rote Kreuz aus dem Sperrgebiet an der Grenze rausgehalten wird. Der polnische Staat will keine Zeug:innen für die unmenschlichen Zustände und die zahlreichen Rechtsverstöße, so die Einschätzung der engagierten Frauen. Sie schilderten uns auch ein unfassbares Beispiel dafür, dass die illegalen Push-backs nicht nur direkt im Wald stattfinden: Ein 8-Jähriger Junge aus Syrien wurde schwerkrank aufgegriffen, ins Krankenhaus gebracht und von dort direkt zurück in Richtung Belarus geschoben. Überhaupt: Was Push-Backs konkret bedeuten und wie sie vollzogen werden, ist auch für bereits Informierte erschütternd: „Grenzschützer“ patrouillieren durch den Wald, finden sie Menschen, werden diese in aller Regel mit Maschinengewehren und Schlagstöcken bedroht und misshandelt und zurück durch die Löcher im Grenzzaun zu Belarus gezwungen. Auf der belarussischen Seite warten ebenfalls Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Willkür auf die Geflüchteten und ebenfalls die Zurückschiebung nach Polen. Es ist eine buchstäbliche Jagd auf Menschen. Die einzige Möglichkeit, Hilfe zu bekommen, ist der Kontakt mit Menschen, die ihnen Informationen geben können und zum Beispiel Notfalltelefone eingerichtet haben. Allein diese Gruppe hat seit Oktober 8000 Hilferufe erhalten. Schutzsuchende sind angewiesen auf Menschen, die bereit sind, in die Sperrzone zu gehen (oder dort leben) und Menschen aus dem Wald heraus zu holen. Deshalb sind Kommunikationsmittel, Handys, Powerbanks und Simkarten so wichtig und wir sind froh, dass viele Menschen, denen wir von unserer Reise erzählt haben, uns solche Spenden mitgegeben haben.

Unsere Gesprächspartnerinnen schilderten uns eindrücklich: Krankenwagen kommen nur ins Sperrgebiet, wenn sie von den Grenzern gerufen werden. Ruft jemand anderes einen Krankenwagen, verständigen diese in aller Regel die Militärpolizei. Menschen werden im Wald ausgesetzt, Familien getrennt. Das macht es unglaublich schwer zu sagen, wie viele Menschen noch in den Wäldern entlang der Grenze festsitzen. Wir hörten Schätzungen, die von ca. 800 Menschen auf belarussischer Seite und einer vergleichbaren Zahl auf polnischer Seite ausgehen. Es finden keine Anhörungen statt, Unbegleitete Minderjährige werden nicht geschützt. Für Schutzsuchende, die in der EU verbriefte Rechte haben gibt es im Wesentlichen 2 Optionen: Push-Back oder Haft in einem der acht dafür eingerichteten Lager. Ein wesentlicher Inhaftierungsgrund: Wenn Schutzsuchende sagen, dass sie z.B. nach Deutschland weiterreisen wollen. Auch das macht ja klar: Es sind nicht nur Polen und Lukaschenko, die hier handeln und Menschenrechte missachten. Genau das ist das Ergebnis und der Kern europäischer Abschottungspolitik.

Der einzig legale Weg, aus dem Wald herauszukommen: Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die nur in Ausnahmefällen überhaupt einholbar ist. Auch das zu organisieren und auf den Weg zu bringen gehört zur Arbeit dieser Gruppen. Das Gespräch mit ihnen, die unter anderem auch Rechtsberatung, Anwält:innen, notgedrungen auch medizinische und humanitäre Hilfe organisieren, war in vielerlei Hinsicht beeindruckend. Auffällig war, das zeigten die Gespräche zuvor und danach: Es sind insbesondere Frauen die sich engagieren, die sich beeindruckend professionell vernetzen, die sich trotz der widrigen Bedingungen weder fügen, noch abfinden. Wir waren gleichermaßen geschockt und beeindruckt von der Arbeit und den Erzählungen der Frauen, die wir auf unserer Reise getroffen haben. „Es fühlt sich an wie im Krieg“ sagte eine von ihnen. Dies war für mich persönlich einer der eindrücklichsten Sätze. Er verdeutlicht, wie lebensbedrohlich die Lage für Schutzsuchende in den Wäldern entlang der Grenze ist. Es verweist auch auf die Unterdrückung und Unterbindung von Hilfe: Unterstützende, die mit medizinischen Hilfsgütern im Wald unterwegs waren, wurden ebenfalls mit Maschinengewehren bedroht. Früher, so sagte eine der Frauen, haben sie Rechtshilfe organisiert und geleistet, Betreuung und Integrationshilfe organisiert. Jetzt geht es um humanitäre Hilfe.

„Polen ist kein sicherer Ort für Geflüchtete“ – das gaben uns unsere Gesprächspartnerinnen eindringlich mit auf den Weg.

Unser Weg führte uns von Warschau aus weiter in Richtung Grenzgebiet – über Sokółka fuhren wir nach Hajnówka, eine der Städte in direkter Nähe der Grenze und der Sperrzone. Hier trafen wir zunächst Vertreterinnen der fundacja ocalenia (https://en.ocalenie.org.pl), die eigentlich Integrationsarbeit leisten. Sprachkurse, Rechtsberatung, Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche, Vermittlung von Anwält:innen und Psycholog:innen, Arbeit mit Kindern gehört zu den klassischen und zumeist im Ehrenamt gestemmten Aufgaben dieser Gruppe. Seit August letzten 2021 leistet auch sie aber vor allem humanitäre Hilfsarbeit, wie uns die jungen Frauen berichteten. Sie versuchen zu erfassen und zu dokumentieren, was passiert, in Kontakt mit den Betroffenen zu kommen und den nötigen Support zu organisieren.

Rechte paramilitärische Truppen Hand in Hand mit den Behörden

Aus den Gesprächen mit dieser und den anderen Gruppen ging auch hervor, dass bei der Errichtung dieses Grenzregimes auch paramilitärische Gruppen eine große Rolle spielen. Sie wurden 2016 von der rechtsextremen PIS-Partei gegründet, rekrutieren sich aus Freiwilligen und sind ebenso bewaffnet wie das Militär. Uns wurde geschildert, dass diese sich von normalen Militärformationen dadurch unterscheiden, dass sie keine Kennzeichnung haben. Die Idee ist vergleichbar mit dem Konzept rechter Bürgerwehren – nur dass diese in Polen „Truppen zur Territorialverteidigung“ heißen, staatlich lizensiert sind, mit Maschinengewehren Zugang zur Sperrzone haben und dort Gewalt und Macht ausüben können. Wiederholt wurde uns von Übergriffen dieser Truppen auf Menschen, die sie als Fluchthelfer:innen verdächtigen, berichtet. Auch an der Suche nach safe houses, also Häusern, in denen Schutzsuchende, die es aus dem Wald geschafft haben, aufgenommen werden, sind sie beteiligt. Mitunter wird sogar abends von außen in die Häuser geschaut und geleuchtet, um zu sehen, wer sich darin befindet.

Es geht um Menschenleben

Umso krasser war die Begegnung mit Menschen, die klar sagen: „Es ist möglich und nötig in die Zone zu gehen“. Trotz der Abschreckung und der Einrichtung der Sperrzone, trotz drohender Strafen und massiver Einschüchterung durch Grenzpolizei und rechte Regierung: Wir konnten Aktivist:innen treffen, die als Anwohner:innen in der Sperrzone leben, die Geflüchtete halb erfroren und verhungert gefunden haben und die zum Teil extra dafür (Anwohner:innen haben Zugang) in die Region gezogen sind. Sie haben uns in ihrer Klarheit und Selbstverständlichkeit schwer beeindruckt. Sie unterstrichen, was schon in den Gesprächen zuvor deutlich wurde: Entlang der Grenze geht es nicht nur darum, Menschen in einer schwierigen Situation zu helfen und sie bei der Einforderung und Wahrung ihrer Rechte zu unterstützen. Es geht darum, Menschenleben zu retten. Menschen vor Hunger, Kälte und Durst, aber auch der Grausamkeit und der Gewalt der Grenztruppen in Belarus und Polen und der staatlich lizensierten Gewaltlust rechter paramilitärischer Bürgerwehren zu bewahren. Denn das ist die Alternative.

Radikale Menschlichkeit

Diese Alternative sind einige Menschen nicht bereit zu akzeptieren. Sie schilderten uns eindrücklich, wie sie versucht haben, Menschen aufzuwärmen und die völlig durchnässte Kleidung auszuziehen. Die Kleidung war an der Haut festgefroren. Sie schilderten, dass Menschen mit schweren Verletzungen aus dem Wald kommen, die ihnen von den „Grenzschützern“ zugefügt wurden. Sie schilderten die Angst, die unfassbare Trauer und die Hilflosigkeit, wenn Menschen verloren gegangen sind und dass sie oft verloren bleiben. Und sie beschrieben es als einen der schönsten Erlebnisse, als drei verloren gegangene Kinder gefunden wurden und zu ihren Eltern gebracht werden konnten.

Es sind unterschiedliche Menschen, die in den Wald zu gehen, und Menschen dort raus zu holen und dies tun, im Wissen darum, dass das illegal ist. Es sind ältere wie jüngere mit ganz unterschiedlichen Professionen und Bezugspunkten. Es sind auch hier auffällig viele Frauen und es sind, so wurde uns beschrieben, vor allem Menschen die unmittelbar in der Grenzregion und in der Zone leben, die den größten Anteil an der konkreten Fluchthilfe haben. Was sie eint: Ihr ganz privates Leben ist dem Ende des letzten Sommers ein anderes und von der Lage der Schutzsuchenden bestimmt. Sie alle schilderten, sich nicht bewusst entschieden zu haben oder diesen Weg gewählt zu haben. Sie sprachen auch über mögliche Konsequenzen und die Folgen für jede*n einzelne*n, ganz persönlich. Sie alle sagten, sie hätten überhaupt nicht das Gefühl, eine Wahl zu haben. Entweder sie holen die Leute aus dem Wald, oder sie leiden Hunger, Kälte und Gewalt und vielen von ihnen sterben. Es ist gemessen an der Bevölkerungszahl nur ein kleiner Teil von Menschen, die aktiv sind. Einer unserer Gesprächspartner erklärte die wesentliche Rolle der lokalen Einwohner:innen unter den Aktiven mit der direkten Konfrontation mit dem Elend der Geflüchteten: „Hier haben Flüchtlinge die sich kaum auf den Beinen halten konnten, bei Menschen an die Tür geklopft und um Wasser gebeten. Da muss man sich als Mensch entscheiden.“

Unser Weg führte uns zum Abschluss in den Wald. Ein wunderschöner Wald, der letzte Urwald Europas, Lebensort für Bisons, Luchse und unzählige Arten, ist für Schutzsuchende zu einem absolut lebensfeindlichen Ort gemacht worden. Unter den Geflüchteten wird er jungle genannt. Eine der Aktiven führte in das sumpfige Waldgebiet in der Sperrzone. Militär und Polizei nahmen uns wahr, ließen uns aber unbehelligt, wohl auch wegen der vielen Kameras, die wir dabeihatten.

K. zeigte uns Orte, an denen Menschen gefunden wurden und an denen sich Menschen versteckt halten konnten. Und Stellen, an denen Menschen verloren gingen.

Es gab bei dieser Reise viele schockierende Momente und Schilderungen. Am schockierendsten – auch das spiegelten uns Gesprächspartner:innen immer wieder – ist zweifellos, dass im 21. Jahrhundert in der Europäischen Union nötig ist, illegal zu agieren, um Menschen vor Kälte, Gewalt und Tod zu retten. Es gab zugleich unglaublich viele bewegende und ermutigende Momente. Dass Menschen bereit sind, das zu tun,

die Konsequenzen zu tragen, ihr Leben komplett umzubauen, weil sie nicht bereit sind, Menschen ihrem Schicksal und den Grenztruppen zu überlassen, hat uns bewegt und sehr beeindruckt.

Wir sind entschlossen, weiter politisch und ganz konkret gegen die Festung Europa anzukämpfen. Auf parlamentarischer Ebene, in der Unterstützung der Refugeearbeit hier und mit Support für die Arbeit der Helfenden in Polen. Was sie brauchen, lässt sich klar benennen: Geld, Autos, safe houses und Aufmerksamkeit für die humanitäre Katastrophe, die sich in Polen für Schutzsuchende abspielt. Wir bleiben in Kontakt mit unseren Gesprächspartner:innen in Polen und sind dabei zu klären, wie weitere Unterstützung aus Deutschland heraus aussehen könnte. Ein Spendenaufruf wird also folgen, genauso bleibt die Situation in Wędrzyn, unweit der deutschen Grenze im Fokus.

Wir haben wunderbare, beeindruckende und mutmachende Menschen kennengelernt. Wir haben queere Aktivist:innnen getroffen, die uns Räume und Gelegenheit für die Vernetzung mit Refugeesupporter:innen gaben. Wir haben Engagierte getroffen, die uns mit ihrer Organisiertheit, ihren Strukturen und ihrem Mut beeindruckt haben. Und wir haben Menschen im Grenzgebiet getroffen, die uns mit ihrer radikalen Menschlichkeit berührt haben. Wir sind froh, dass wir ihre Arbeit mit Hilfe der Spenden unterstützen konnten und zu internationaler Aufmerksamkeit beitragen konnten. Danke allen, die das möglich gemacht haben und das weiter tun!