Nachdenken nach dem Wochenende der „Corona-Proteste“ in Berlin
Reichsflaggen auf den Treppen des Reichstages. Und drei Polizisten verteidigen den Eingang. Propagandistisch ein riesiger Erfolg der unsäglichen Mischung von Nazis, Reichsbürgern, Esoterikern und worüber auch immer besorgten Bürgern, die Berlins Straßen am Samstag bevölkerten. Meine erste Reaktion bei Facebook war folgende: „Wenn man die Bilder vom Reichstagsgebäude sieht, wo Nazis alle Absperrungen durchbrochen haben, zum Eingang gestürmt sind und auf der Treppe die Reichsfahnen wehen, dann ist dies ein Symbol. Auch ein Symbol ist, wenn (nur) drei Polizisten versuchen, den Mob daran zu hindern, auch noch ins Innere des Gebäudes vorzudringen. Ich habe unglaublichen Respekt vor diesen drei Beamten! Und ich bin fassungslos, dass solche Symbolik zugelassen wurde. Dass dieses Gebäude für die extreme Rechte eine Bedeutung hat und bei einem „Sturm auf Berlin“ Ziel sein dürfte, ist jetzt keine sonderlich abwegige Möglichkeit. Und gleichzeitig empfinde ich diese Bilder als Mahnung, wie sehr unsere Demokratie gerade in Gefahr ist.“
Und dann kam das weitere Nachdenken. In mehrfacher Hinsicht und mit vielen Fragen, auf die ich nur zu Teil erste Antworten habe. Aber das Nachdenken scheint mir ebenso notwendig wie die gemeinsame Suche nach den Schlussfolgerungen. Deshalb schreibe ich hier auf, was mich aktuell bewegt.
Da ist zuerst die Frage: Was bedeutet das Reichstagsgebäude eigentlich? Es ist nie – wie Parlamente in anderen Ländern – von den Demokrat*innen verteidigt worden. Zwar war es Symbol, als es brannte. Doch da war die Demokratie schon begraben und der Brand war der Vorwand, die bereits eingeleitete Ausschaltung der politischen Gegner zu forcieren. Und am Ende dieses Prozesses musste die Rote Armee kommen und aufräumen.
Erst Jahrzehnte später wurde es (wieder) zum Sitz des Parlaments. Aber ist es für uns wirklich das Symbol der Demokratie in unserem Land? Taugt es dazu, dafür herhalten zu müssen, dass das letzte Bollwerk unserer Demokratie drei Polizeibeamte sind?
Und dann kommt die Frage: Wenn es schon mir der Symbolik so schwierig ist. Wie ist es dann eigentlich mit der Demokratie als solcher? In Deutschland haben schon immer konservative Demokraten lieber mit rechten Antidemokraten paktiert als mit linken Demokraten. Ok, das ist eine gewagte These. Es steht aber fest: Der Antikommunismus, der Hass auf linke Politik ist nach wie vor verwurzelt – auch und gerade in der CDU.
Max Reimann, der Vorsitzende der KPD sagte angesichts der Verabschiedung des Grundgesetzes: „Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!“ Sind wir an diesem Punkt? Ist die politische Linke in unserem Land diejenige, die das Grundgesetz, die Demokratie verteidigt? Sind wir fest entschlossen, diesen Kampf zu führen? Wer sind unsere Bündnispartner*innen? Und wer greift die Demokratie eigentlich an?
Und da sind wir beim Charakter des Protests. Wer ist das eigentlich, wer geht da auf die Straße? Ist es wirklich „nur“ ein Protest gegen die angeblich überzogenen Corona-Maßnahmen? Wenn man sich anschaut, was von den Maßnahmen übriggeblieben ist – im Kern sind das noch Verbot von Großveranstaltungen, Obergrenzen bei der Personenzahl von Privatveranstaltungen, Abstandsregelungen und die Pflicht, in bestimmten Bereichen einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen – ist das objektiv weder ein Grund, sich in seiner Freiheit extrem eingeschränkt zu fühlen, noch von Diktatur zu schwadronieren. Und nebenbei: wenn es eine Diktatur wäre, hätten die Demonstrationen am Wochenende mit Sicherheit nicht – juristisch legitimiert – stattgefunden.
Es ging nicht nur um die Corona-Maßnahmen. Vielmehr haben sich hier Unzufriedene aus verschiedenen politischen Spektren zusammengefunden. Sie einte genau eines: die Ablehnung des Staats und das Infragestellen der Legitimität seiner Maßnahmen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Da sind die Neonazis, die massiv für diese Veranstaltungen mobilisiert haben, neben Reichsbürgern, Esoterikern, Friedensbewegten, Verschwörungstheoretikern, völkischen Siedlern, irgendwie besorgten Bürgern usw. Eine Zeitung titelte: „Eine bunte Truppe“. Und ja, genau das ist sie. Vermutlich haben ich die Nazis des III. Wegs oder der NPD noch nie in einer so „bunten“ Truppe bewegt.
Aber genau das ist das Problem. Nazis sind anschlussfähig geworden an andere Klientels, an andere gesellschaftliche Gruppen. Was mit den Pegida-Protesten begann wird nun offenbar: Nazis sind bündnisfähig geworden. Bis in politische und kulturelle Gruppen hinein, die dies selbst jetzt noch weit von sich weisen würden. Was vordergründig als die Ablehnung staatlicher Maßnahmen gegen Corona erscheint, ist in Wahrheit die Ablehnung des Staats, seiner Institutionen, seiner Repräsentanten und in der Konsequenz auch seiner Werte.
(Es sei dazu angemerkt: Während die Linke noch intern streitet, rüstet sich der Gegner. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Linken und Rechten. Die Linke will immer erst jede ideologische Frage des WIE geklärt haben, bevor sie damit nach draußen geht. Der extremen Rechten hingegen war es immer schon egal, mit welchen Inhalten sie die Macht erobert. Sie wollte die Macht und sie will die Macht. Und sie weiß sehr genau, dass die Machtfrage die entscheidende ist. Dafür wird sie jedes politische Bündnis eingehen und die ideologischen Differenzen danach klären.)
Die Gefährlichkeit ist nicht die eingangs beschriebene Symbolik. Die Gefährlichkeit ist die Anschlussfähigkeit. Wenn 200 Leute die Treppe des Reichstags stürmen um dort Reichsflaggen zu hissen, mag dies vordergründig ein Propagandaerfolg sein. In Wahrheit ist der Erfolg aber, wer sich diesem „Sturm“ alles angeschlossen hat. Wenn die Regenbogen-Peace-Fahne neben der Fahne des Kaiserreichs auf den Treppen des Reichstagsgebäudes weht, ist mehr passiert als eine Provokation von Rechtsextremen. Dann reden wir von Anschlussfähigkeit von Nazis an gesellschaftliche Gruppen, die ihnen bisher diametral entgegen standen. Und das ist das Problem.
Eine linke Partei übrigens, die nicht in der Lage ist, hierzu eine klare Position zu beziehen, kann sich einsargen. Und wenn Repräsentanten einer linken Partei hierzu auch nur im entferntesten eine unklare Position beziehen, dann taugen sie nicht einmal mehr für die letzte Reihe.
Und da stellt sich die Frage, was die Rolle der gesellschaftlichen Linken und vor allem einer linken Partei in dieser Auseinandersetzung ist. Wenn also die Auseinandersetzung gerade nicht die der Corona-Maßnahmen sondern die der Anschlussfähigkeit von Nazis ist. Wenn 90% der Bevölkerung die Maßnahmen gut heißen oder gar als nicht ausreichend bezeichnen, ist dann der Platz der Linken an der Seite derjenigen, die den Staat angreifen? Wenn diese Maßnahmen vor allem dazu dienen, die Bevölkerung vor gesundheitlichen Schäden zu schützen, ist es dann sinnvoll, den Pakt mit all jenen einzugehen, die die staatlichen Maßnahmen bekämpfen?
Ich glaube, die Aufgabe der gesellschaftlichen wie der politischen Linken ist aktuell vor allem, im Sinne Max Reimanns das Grundgesetz zu verteidigen. Die Würde des Menschen, seine körperliche Unversehrtheit, die Gleichstellung, die Meinungs- und Pressefreiheit, und ja, auch die Versammlungsfreiheit. Jede und jeder darf mitteilen, was sie und er denkt. Aber sie und er müssen auch Widerspruch ertragen. Der Widerspruch aber ist nötig. Und wer am Wochenende mit Nazis auf der Straße war, wer geduldet hat, dass Politiker*innen und Journalist*innen auf Plakaten in Häftlingskleidung und gebrandmarkt durch „schuldig“ diskreditiert wurden, wer es völlig in Ordnung fand, dass von Rednern erklärt wurde, dass das Naturell der Frau nun einmal das Kinder bekommen wäre und man des wieder forcieren wolle und wer bejubelt hat, dass ein „Friedensvertrag“ notwendig wäre, weil es bisher keinen legitimen Staat gäbe, der stellt sich neben die Grundsätze unseres Zusammenlebens. Und meinetwegen sollen er und sie da stehen. Aber sie sollen dort alleine stehen. Sie sollen Widerspruch bekommen. Und sie sollen erfahren, dass sie eine unbedeutende Minderheit sind.
Was also sollte eine linke Partei in dieser Situation tun? Ich finde, neben der notwendigen klaren Abgrenzung von diesen „Protesten“, gibt es eine weitere Antwort: Es gibt aktuell ein Zeitfenster, das es möglich macht, explizit linke Forderungen und Positionen mehrheitsfähig zu machen. Und genau das ist unsere Aufgabe. Die Entziehung des Gesundheitswesens der Profitlogik, die Reform des Sozialstaats, damit niemand mehr durchs Netz fällt, bezahlbares Wohnen, die Beseitigung von Nachteilen im Bildungswesen, die Digitalisierung allen nutzbar machen usw. – das sind Positionen, die aktuell Hochkonjunktur haben.
Es ist unsere Aufgabe, dies zu thematisieren, alles daran zu setzen, wenigstens einen Teil davon mehrheitsfähig zu machen und in tatsächliche Veränderung münden zu lassen. Und genau dabei ist mir unsere Partei zu ruhig. Wo ist unsere kraftvolle Kampagne für ein Gesundheitssystem ohne Profit, für gute Bezahlung von Pflegekräften? Wo ist die bundesweite Mobilisierung für die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor der Pandemie, für die Forderung nach Enteignung der Konzerne, die Mieter*innen gerade jetzt mit Mieterhöhungen überziehen? Wieso gelingt es nicht, Mehrheiten für die Erhöhung des Kurzarbeitergelds oder die soziale Absicherung von Soloselbständigen zu organisieren? Wir werde gerade dringend gebraucht und haben jetzt die Chance, viele Jahre lang erarbeitete und propagierte Forderungen mehrheitsfähig zu machen. Ich fürchte, wir schaffen es gerade nicht, diese unsere Rolle in dieser Krise einzunehmen. Und deshalb sollten wir uns konzentrieren, auf das, was notwendig ist: kämpfen für das, was uns eint.